PAD MORELLI`S «BERGEN» X

Buch 2: Die Freiheit der Narren

II: Die Sehenden

Der Laufbursche, ein stotternder und misachteter Junge aus den 1920er Jahren gerät über eine mysteriöse Dame im Wald auf ein Abenteuer durch die Zeitstränge.

In Form einer Taube besucht er die Antike und entdeckt Gesellschaften, die vor mehr als 2000 Jahren von Julius Caesar ausgelöscht wurden. Geführt von der Stimme seiner Begleiterin entdeckt er über die Trumpfkarten eine längst vergessene Welt und die darin wandelnden Wesen.

Vor ihm legt die Dame den zweiten Trumpf auf den Tisch; den Trumpf der Sehenden. Die Karte zeigt eine junge und eine erwachsene Gestalt, die sich an der Mittellinie spiegeln. In der einen Hälfte der Karte repräsentiert eine junge, schöne Frau das international geltende Orakel, gegenüber ist eine ältere keltische Priesterin abgebildet, in der Mitte schauen beide Figuren in die selbe Christalkugel…

Bei der jungen Frau mit schwarzen, langen Locken handelt es sich um das damals aktive Orakel von Delphi, eine Berühmtheit in der antiken Welt, eine Tänzerin, die in ihrer Ekstase Bilder aus der anderen Welt zieht und sie den Suchenden offenbart. Ihre Situation ist privilegiert, sie lebt im Luxus, aber auch in konstanter Überwachung und – wie sich herausstellen wird – in ungeheurer Gefahr.

Julius Caesar, ein Stadthalter in Südgallien, der die Stämme an seinen nördlichen Grenzen gegeneinander aufwiegelt und intrigant, geschickt und skrupellos seinen Vorteil aus dem Chaos zieht, hat grosse Pläne: Er will die Welt erobern. Wie einst Alexander der Grosse will Caesar eine Bewegung auslösen, die nichts und niemand aufhalten kann. Denn er sieht sich selbst als Halbgott. Ein Nachfahre der Venus, oder der Aphrodite.

Immer schon war er besessen von den Griechischen Mythen, von den Legenden über die Entstehung Roms und die Verwandschaft der beiden Kulturen.

Ohne es öffentlich bekannt zu machen, reist er nach Griechenland. Cäsar tritt nicht nicht als Heeresführer auf, sondern in unauffälliger, ziviler Kleidung. Nur seiner Familie schreibt er nach Rom, er sei auf einer Studienreise.

Was er niemanden wissen lässen; Er will sich vom bedeutendsten Orakel seiner Glaubensgemeinschaft Gewissheit geben lassen, dass seine Feinde geschlagen werden können; Dem Orakel von Delphi.

Über einflussreiche Verbündete beschafft er sich direkten Zugang zum Orakel und überrascht die junge Frau in ihrer Badewanne.

«Hey, was soll das, Sie können hier nicht einfach hereinspazieren!» Sagt das Orakel empört und bindet sich ein Tuch um. Sie ist verstört und sichtlich verängstligt.

«Keine Angst, ich werde Dir nichts tun, mein Kind. Aber ich muss Gewissheit über mein Schicksal erlangen. Und es eilt.»

«Ich arbeite nicht, sie müssen einen Termin mit dem Tempel vereinbaren. Wenn Dionysos nicht da ist, wenden Sie sich an Apollon. Bitte gehen sie jetzt, ihre Präsenz stört meine Gedanken und meine Kräfte.»

«Mein Name ist Gaius Julius Cäsar, ich bin ein Ahne der Aphrodite, wenn Du mir nicht gehorchst wirst Du den Zorn des Jupiters auf Dich ziehen!»

«Hören Sie, ich kann ihnen ohnehin keine Gewissheit geben. Ausserdem habe ich keine Unterlagen von ihnen…»

«Ich habe sie da. Meine Geburtsurkunde, mein Lebenslauf, mein Pass und mein Geld.»

«Sie wollen, dass ich mich jetzt sofort mit ihrem Schicksal auseinandersetze und ihnen eine Einschätzung gebe? Das ist unhöflich.»

«Tu es, Spinnerweib, wenn Du mir keinen Respekt zollst, so seien die Götter mir gnädig, werde ich Dich dazu zwingen!»

Die ganze Nacht liest sich das Orakel in die Sterne von Cäsar ein, studiert seine Lebensgeschichte und fragt schliesslich auch diverse Fragen zu seinen Beziehungen und Aggressionen.

Als Sie ihm sagt, dass er, wenn er weiter so ein strenges Spiel durchzieht, seine Gesundheit und seine Familie belasten wird, und ihn spätestens dann die Gunst der Götter verlassen wird, explodiert er förmlich! Er packt die junge Frau bei den Haaren und schreit:

«Ich wusste es! Nichts als Schwindler und Quacksalber! Euer Volk wird schon noch lernen, wie man sich zu benehmen hat, wenn ein Ahne der Götter zu ihnen spricht!

In der neuen Welt werden die Schwindler keinen Platz mehr bekommen!»

Als sie ihn mit einem Kratzer von sich löst und mit den Beinen an die Wand stösst, wird er plötzlich von ihrer Schönheit ergriffen und verfällt dem triebhaften Verlangen.

Als er fertig ist, lässt er das Orakel zerknittert und befleckt wimmernd liegen und schreitet aus dem Tempel zu seinem Gefolge. Er weist die Männer harsch an, ein Boot nach Rom zu organisieren und ihm an Bord ein heisses Bad einzulassen.

Eine Taube fliegt durch das offene Fenster des Tempels und setzt sich auf die Kommode der jungen Seherin. Sie schluchzt und geht hin zu Taube, die sich nicht rührt, und nimmt das gefiederte Wesen in ihre Arme und drückt es sanft an sich.

«Was für scheussliche Menschen unsere Zeiten hervorbringen… Hoffentlich bleibst Du von den Kreuzen verschont, die ihm Wahn die Schwachen und Einzigartigen quälen.

Mögen sie zu Grunde gehen, an ihren Widersprüchen und niemals die Wahrheit oder die Liebe finden, denn sie würden sie versklaven, zerstören und in die Verdammnis führen…»

Der Laufbursche wird mit einem Streicheln auf seiner Schulter aus der Vision gezogen und findet sich vor der Seherin wieder, im Wagen, im Pfynwald, in seiner eigenen Zeit.

Er schaudert und wieder rinnen Tränen über seine Wangen. Sie nimmt ihn in die Arme und streichelt seinen Kopf.

«Keine Sorge, jede Schändung kann überlebt werden. Und in manchen Fällen macht sie die Geschändeten sogar noch stärker… Es ist nicht das letzte Mal, das wir das Orakel sehen. Es wird uns begegnen und unsere Präsenz spüren.»

«Dieses Schwein…» Sagt er zitternd. «Wie kann man nur…»

«Es ist besser wenn wir weiterfahren. Es erwarten uns hellere Kapitel. Egal wie sehr Kreuz gegen die Regeln verstösst, es wird die Schaufel niemals auslöschen können. Die Ungerechten bereiten nur den Rückschwung vor, graben ihr eigenes Grab, stossen ihr Gegenüber von der Schaukel, ohne zu wissen, dass sie dabei in die Tiefe stürzen werden.

Ausserdem erwartet uns eine andere Seherin im Land der sieben Zwergenkönige.»

Der Laufbursche wird wieder in die Kugel gezogen, fliegt über die Berge und Täler bis zu einem kleinen Bergdorf, wo eine ältere Dame die Karten legt und in ihrer Kugel das gerade begangene Gräuel und die eminente Gefahr im Süden sieht.

«Das ist ja schrecklich… Oh je… Ich muss Blumenbart benachrichtigen!»

Wie gerufen setzt sich eine graue Taube auf den Sims ihrer Küche und gurrt sie fragend an. Sie lächelt und gibt ihm dem schönen Wesen ein Paar Samen zum Picken.

«Ach Gottchen, was für grässliche Zeiten. Ich habe einen Auftrag für dich, gefiederter Freund. Flieg, so schnell Du kannst, und finde Blumenbart. Du musst ihm diese Schriftrolle übergeben!»

Der Laufbursche steigt in die Luft, weit über die Laternen des Bergdorfs, über das Rhonetal hinweg auf die andere Seite, zum Fenster von Blumenbart, der im Gästetrakt der Felsenburg liegt und schläft.

Die Taube pickt mit seinem Schnabel an die Scheibe und schafft es den Druiden dazu zu bringen, mit aufgesetzter Schlafmütze in die Pantoffeln zu schlüpfen, den Morgenmantel um zu schwingen und der Taube verschlafen das Fenster zu öffnen.

«Na, was hast du denn da schönes… Eine Nachricht. Für mich? Dankeschön. Willst Du etwas zu knabbern?»

Er geht, kramt seine Reisetasche hervor und holt ein paar Samen und Brotreste hervor, die die Taube genüsslich aufpickt.

«Oh je…» Ertönt seine alte Stimme. «Das ist ja schrecklich…» Ich muss so schnell wie möglich den Orden davon in Kenntnis setzen. Das ist fürchterlich. Die arme Seherin…»

Er schreibt hastig mehrere Nachrichten und schickt Tauben an all seine Vertrauten in der Nähe. Er weiss noch gar nichts von den Verhaftungen und der Invasion der Jäger.

Der Druide schaut hinab auf die Greifsburg, wo ohne sein Wissen die Waldgoofen zusammen mit allen anderen Widerständlern im Schelmenturm eingesperrt sind und seufzt.

«Schrecklich… Eine heilige Tänzerin zu schänden… Das übersteigt die Grausamkeit, die ich Caesar zugetraut habe. Wahrlich fürchterlich… »