PAD MORELLI`S «BERGEN» IX

Buch 2: Die Freiheit der Narren

I: Der Magier

«Das Spiel geht weiter. Ich habe deinen Buben gestochen, also bin ich an der Reihe und ich spiele den zweiten Trumpf aus.»

Die Seherin tischt dem Laufburschen eine schönbemalte Karte auf. Der Zeichenfluss verläuft in die Ecken, in der Mitte wird sie spiegelverkehrt imitiert.

Auf der Karte sind zwei Gestalten gezeichnet. Nur ihre Büsten sind sichtbar. Sie sind horizontalen Mitte gekreuzt. Auf der einen Seite sieht man einen bärtigen alten Mann mit Hut, der gegen den Himmel zeigt. Auf der anderen Seite ist ein Junge gezeichnet, mit langen, schwarzen Haaren, der gegen den Boden zeigt.

«Das ist der erste Trumpf, der Magier. Jetzt bist Du an der Reihe. Zieh eine Karte!»

Er zieht den Ecken Ass.

«Der Ecken Ass ist zum Spinner der Mentor. Er ist Freund der Wahrheit und ein wahrer Freund, der mehr vom Narren versteht, als dass der Spinner je sagen könnte. Es ist der Weiseste unter den Weisen, wird aber von seinen Gegnern als Spinner beschimpft.

Er hilft den Barden, ihre Leier zu finden, den Reisenden den Weg, den Kranken die Heilung und den Tauben die geistige Hellsicht.»

In dieser Geschichte sind zwei Magier im Spiel: Der Vorsitzende des Ordens der Druiden und Barden; also Merlin Blumenbart, Sohn des Bakuninix Blumenbart. Und andererseits der Herzbube, der Wander-Magier, der mit seiner Schau die Sinne täuscht und die Grenzen der Vorstellungskraft ausweitet.

Beide repräsentieren eine grosse Hoffnung, Lösungen auf die Probleme der Narren zu finden, und mit Hilfe der Friedlichen eine sichere Welt zu schaffen.

Das Gesicht des Laufburschen wird abermals in die Christalkugel gezogen und er fühlt sich wieder im Körper einer Taube, die über eine längst zerfallene Zeit fliegen kann.

Willkommen im Land der sieben grossen Zwergenburgen.

Blumenbart lebt in der Hauptstadt Ost-Galliens, am Neuenburgersee, im Hauptgebäude der Universität Latène, oberhalb der Bibliothek, in einem bescheidenen Turm.

Er hat viel um die Ohren, hält Vorträge, koordiniert die Druidenverbände, organisiert die Weiterbildungen und Festlichkeiten in der Haupt-stadt LaTène und ist ein hoch angesehener, wenn auch tiefst bescheidener, rücksichtsvoller und gutmütiger Mensch.

Ausserdem pflegt er eine ausserordentlich schöne Freundschaft und Seelenverwandtschaft zu Jean-Pierre D Alpaos, der die Festlichkeiten im Rhonetal organisiert und Barden und Druiden aus aller Welt mit einander vertraut macht.

Die Heimat der Ost-Gallier ist ein Urlaubsort der freien, ein Märchenparadies, mit vielen magischen Beizen und Märkten, Küchen und Bädern, die allen offen stehen.

Viele weitgereiste und interessante Leute kommen und bringen modernste Nachrichten von der internationalen Lage, werden beherbergt und tragen zum Leben bei.

So wird es zum best informierten und sichersten Ort der Welt, in dem sich alle Kulturen der Welt mischen können, ohne Zwang und ohne Hast, als kultivierte Menschen.

Als Teil eines Neutralitätspaktes bleibt es unversehrt während den Gefechten zwischen den Kronen und den Republikanern im Westen.

Die Versorgung der Menschen und Waren, die Pflege der Wesen und Objekte und die Unterkunft und Wäsche allen Lebens wurde in den letzten 2000 Jahren von der Ost-Gallischen Vereinigung «Ordens der Druiden und Barden» organisiert.

Sie hatten nie Personalmangel. Das Leben war schön als Druide, schön als Gehilfe, Frauen und Männer aus aller Welt lernten sich kennen und trugen dazu bei, dass schlaue Köpfe zuständig waren, um die Alten und die Kranken zu betreuen. Und als Barden hatte man es auch nicht schlecht.

Merlin Blumenbart, der Vorsitzende des Ordens erinnert sich an seine Jugend, in der er noch Medizinstudent war und an seltenen freien Tagen mit seiner Freundin durch den Pfynwald wanderte um in den Seen im Wald mit den Nymphen zu baden. «Sehr viel Weisheit wurde in diesem See geteilt und es entstanden daraus die Verhältnisse, die diese Welt nun schützen.» sagt er stolz.

Die anderen Vereine haben den Verkehr geregelt, die Leute unterhalten, gekocht, gebacken, gebraut, getanzt, zu den Sternen geschaut, getrunken, gelacht, geturtelt, gevögelt, genistet, gebaut, gepflegt, besetzt, kultiviert, weitergegeben, anders gelebt, ähnlich gelebt, manchmal nur kurz gelebt.

Der Verkehr im Tal war lose geregelt, von kleinen Kooperativen. Es gibt verschiedene Züge im Tal, manche mit fester Besatzung, andere mit Passagieren. Zum Anbruch der vier Jahreszeiten ziehen die Züge zirkulär weiter, um auf einem andern Hof zu arbeiten.

Der Zug aus Reitern, Rindern und Kühen zieht mit Dutzenden Wagen von Dorf zu Dorf, gefahren von erfahrenen Menschen und Wesen mit wenig Hast und geübter Sorgfalt.

Die Züge kennen ihre Route, werden generell gerne bewirtet, unterhalten das Material der Gaststätten, warten die Maschinen, putzen die Ställe und die Tiere, reparieren Schäden vor Ort und helfen in der Unterhaltung der Gebäude.

Trotzdem macht sich immer bemerkbarer: Freiheit und Frieden sind nicht sicher. Bedrohung aus dem Süden, von den Römern und die neue Bedrohung aus dem Westen, von den Republikanischen Galliern, sowie die neuen Raubritter die von Osten her einfallen, legen einen Schatten über die Welt des Blumenbart. Und über die Welt unseres lieben Narren; Jonathan von Felsenburg.

In den Jahren der Gross-Gallischen Besatzung trifft Blumenbart zum ersten mal auf den fünfjährigen Jonathan von Felsenburg. Es ist eine schicksalhafte Nacht, die wir schon kennen.

Es ist Abend. Die Taube setzt sich auf einen der Türme des Ratshauses. Noch ahnt niemand etwas von der beovrstehenden Massen-Verhaftung.

Der Junge lungert unbekümmert auf dem Baum im Park der Greifsstadt, ist beinahe unsichtbar und sucht von einem Ast aus den Tumult vergeblich nach seinen Freunden ab.

Blumenbart bemerkt ihn allerdings sofort. Er grüsst den Kleinen wortlos, einem Schwenker seines Hutes.

Blumenbart kommt seit langer Zeit gerne an diesen Ort, wo er der Sonne so gut zu sehen kann, wie sie im Horizont versinkt und damit der Erde wieder Zeit gibt, um abkühlen zu können.

Jonathan ist aus seinem Stubenarrest geflohen und in einem spektakulären, wenn auch wahnwitzigen und potentiell tödlichen Manöver mit seinem Gleiter auf den Guttner Hügel geflogen und dann so schnell wie möglich in die Greifsstadt gekommen, um seine Freunde zu finden.

Damit hat er jedoch noch keinen Erfolg gehabt. Die Strassen sind voller Leute. Alle feiern die Banden, die die Gross-Gallischen Truppen zuerst bis nach Martinach und dann bis zum See der Lemannen geschlagen haben. Es wird getrunken, getanzt, gespielt und gelacht…

Die anderen Waldgoofen halten sich wahrscheinlich irgendwo im Kellersystem auf und holen sich die Alben ihrer Lieblingsbands.

Immerhin spielen im komplexen Kellersystem der Greifsstadt Elektrik Tom & the Magnetik Freaks, Granny Smith, Grimmelshäuser, Allpottfutsch, Punkrott und Alyss Fate. Das liess sich die Kinderbande nicht entgehen.

Jonathan hält die Suche für aussichtslos und will seinen ersten Abend der neugewonnen Freiheit nicht mit Suchen verbringen.

Also hängt er perspektivlos im Baum und gönnt seinem Geist Ruhe.

Allerdings ist er sofort intrigiert von Blumenbarts Gestalt – ein alter bärtiger Mann mit Stab und langem Mantel -, will ihn aber nicht beunruhigen und widmet sich wie der Rest der Leute dem Sonnenuntergang.

Als die Nacht schon den ganzen Himmel eingenommen hat, die Sterne aus allen Winkeln angeschlichen sind und die Lichter, die Scheiterhaufen (ohne Menschen) und Feuerwerke in allen sichtbaren Siedlungen des Tals den Wald erscheinen lassen wie ein riesiger, grüner See.

Und auf Rändern durchzogen von einer Kette aus Lichtern, die zwischen den an Strassenlaternen und Behausungen vier Mal im Jahr entlangziehen, warmen Wein mit sich tragen, Kleider, Waren und Köstlichkeiten zu den befestigten bringen, Spielsachen und Magisches.

Der Laufbursche verlässt die Gruppe und steigt hinauf in die Lüfte um die Zeitspanne zu sehen, in der an den Häusern und an den langen Wagen-Zügen der Fahrenden langsam die Lichter entfacht werden.

Als der Druide beschliesst weiter zu ziehen, traut sich Jonathan den Bärtigen anzusprechen:

«He Du, lang gereifter Geist. Ich frage Dich: Was ist der Sinn des Lebens?»

Blumenbart ist verblüfft, aber grinst und mustert den kleinen Aussreisser mit scharfem Blick.

«Es steckt keine Schuld in Deiner Tat, mein Junge. Und ich weiss nicht, wie reif mein Geist tatsächlich ist. Aber ich kann Dir Deine Frage beim besten Willen nicht beantworten… Was meinst Du denn mit Sinn? Willst Du eine Richtungsangabe oder eine Rechtfertigung?»

«Lass mich umformulieren: Wie kann man ein Leben sinnvoller gestalten? Gibt es dafür eine richtige Attitüde? Kann man zu hart sein mit sich selbst und anderen? Wird es sich das Leben immer wieder selber verschlingen und zu Grunde gehen?»

«Nun, Sinn wenn Sinn ein Zustand ist, anstatt nur eine richtige Handlungsart, dann ist das ein Zustand, bei dem man Kraft gewinnt. Aus den alten Kräften zu schöpfen macht uns jung. Und man muss Kräfte schöpfen, um die Dinge tun zu können, die man tun will und die man tun muss, um das eigene Leben in Ordnung zu halten.»

«Sprich bitte weiter.»

Der alte Blumenbart reckt seinen Kopf in den Rücken um den Jungen anzusehen. Der sitzt ganz ruhig.

«Für mich hat es sich immer wieder gelohnt, mich selber nicht allzu ernst zu nehmen. Die Mächte, die die Geister lenken, verstehen Humor am besten, können mit viel Tücke derbe Szenen aushecken, wenn wir uns für allzu voll nehmen.

Und ich denke, dass es ein Leben reicher macht, wenn man sich für andere Wesen einsetzt und ihre Reise auf dem Fluss des Lebens angenehmer gestaltet, wenn es einem denn möglich ist.»

«Aber was ist dann die Attitüde, die ich haben soll?»

«Die sinnvollste Attitüde, mein Kleiner Spinner, würde ich sagen, ist immer zu versuchen, Geborgenheit zu erlangen und sie dann mit anderen Wesen teilen zu können.»

«Wahre Worte, mein Freund. Ich werde sie weitergeben, wenn Sie mich fragen. Danke dafür. Jetzt muss ich leider weiter. Hat mich aber sehr gefreut. Auf Wiedersehen.“

Der Junge zieht sich Maske, Kapuze und Umhang der Waldgoofen über, halb schwarz-weiss gestreift mit dicken Balken, verzieht und säuberlich genäht.

So verschwindet er in der Meute. Unsichtbar in seinen Mantel gehüllt schlängelt er sich durch die Beine der Festmeute, weicht sich leerenden Bechern aus und bahnt sich einen Weg zur Baumhütte von Karl, im grossen Baum, mitten auf dem vollbevölkerten Hauptplatz der Greifstadt.

Der Druide bleibt verblüfft und belustigt vom Gespräch mit dem Waldgoofen und macht sich seufzend und sich streckend mit seinem alten grauen Pferd auf die Strasse zurück, Richtung Seeland.

Die Stimme der Seherin ertönt wieder im Kopf des Laufburschen: «Es wird tatsächlich ein Wiedersehen geben, mehr als zehn Jahre später. Es ist eine Schicksalhafte Nacht. In den Chroniken der Rittermark wird sie als die Nacht der geköpften Blumen vermerkt. Die Jugendbewegung der entlaufenen Kinder und Wald Kobolden wurde in dieser Nacht vom Gross-gallischen Reich verboten und es wurde vieler Orts zur Jagd aufgerufen.

Republikaner, Jäger, Söldner, gekaufte Piraten, Trinker, Sadisten, Kopfgeldjäger, Beamte des Gross-gallischen Staates sowie Kollaborateure des Revolutionären Heers unter neuer Führung von Bonapartix strömten aus allen Richtungen in die Gegend.

Am selben Abend lassen die Truppen unter dem Kommando des Regionalen Wacht Führers die ganze Bande verhaften.

Jonathan und die Waldgoofen haben dem anrückenden Heer nicht entrinnen können und landen mit anderen Banden und Aufständischen im Schelmenturm.

Der Begriff der «Nacht der geköpften Blumen» wurde von Pad Morelli bestimmt. Der Natischer Beizer und Chronist der Pfynbanden hat die Wendungen und Kriege der Bandenkultur des Pfynwalds innigst studiert und hat mit den Recherchen ein Buch über die Bardengruppen, über ihre Ideologie und ihre Lieder geschrieben.

Das Thema ist international umstritten und seine eingefärbte Sichtweise wird von römisch-bezahlten Strassenbanden mitsamt seiner Bar in einer weiteren Feuernacht der Radikalen verbrannt.

In der Nacht der geköpften Blumen werden alle Bandenaktivitäten offiziell verboten, ihre Baumhütten und Schlupflöcher ausgeräuchert und in vielen Fällen zerstört.

Nach dieser Nacht bleibt nur noch ein Bruchteil ihrer diversen und komplexen Lebensart bestehen.

Nur die furchtlosen Waldfratzen unter Olaf Baumbengel schaffen es sich tief in den Wäldern zu verschanzen, da ihre Erzfeinde, die Schädelritter von Westen verstärkt mit Brudervereinen, mit Fakeln durch den Wald zogen und auf persönlichen Befehl von Cäsar alle Pfynkinder zu jagen und zu hängen, alle Kobolde einzufangen und alle Zwerge zu belagern.

Die Behausungen der Flusskobolde werden niedergebrannt, ihre Tiere geschlachtet und ihre Häuser geplündert. Nach der «Nacht der geköpften Blumen», die von Grossgallien und Rom vertuscht wurde, wegen der Schwäche ihrer Besatzungstruppen, feiern die Gross-Gallier eine Wiedervereinigungs-Zeremonie.

Der Rat der Druiden und Barden nimmt teil, um die Lage entschärfen zu können. Allerdings ist er mehr damit beschäftigt, Verhandlungen um die Neutralität und den Abzug der Gallischen Truppen einzuleiten.

Blumenbart ist nicht an den Verhandlungen beteiligt, war nur an der Eröffnungssitzung und hat sich nach einigen Tagen in den warmen Quellen an der Mauer der Dalitaner, wieder auf den Rückweg gemacht. Also ist er in der Greifsstadt nur auf Durchreise. Ein Irrweg hat ihn an den Ort geführt, an dem er früher gerne ins Tal geschaut hat.

Mit seinem grauen Pferd und von einem Schwarm Tauben verfolgt, tritt er an den Rand des Pfynwaldes.

Er muss sich beeilen, um in seinem Büro in der Hauptstadt dem Orden von der Sitzung zu berichten. Die Entwicklungen im Pfyngebiet beunruhigen ihn aber zunehmens. Das Risiko eines Gegenschlags der Gross-Gallischen Führung ist immens.

Er kennt viele der älteren Banden und es schaudert ihm beim Gedanken daran, dass sie von den wilden Söldnerbanden gejagt würden. Die Faschofressen haben grässliche Arten mit den Gefangenen umzugehen.

Es wird das Gleichgewicht zwischen Unterwelt und Kontrolle in die Schieflage zwingen.

Blumenbart ist auf der Rückreise eines geheimen Treffens des Rates, der bei den warmen Quellen am Ursprung der Dala. Man hat darüber beraten, sich aus dem Spiel der Kronen und Soldaten rauszuhalten, sich allerdings von Gross-Gallien unabhängig zu machen und Neutralität in den Revolutions Kriegen auszuhandeln.

Es ist ein tollkühnes Unterfangen, aber der relativ junge Graf von Grautal hatte auf seinem Thron so stark gepresst, dass er den Rat davon überzeugen konnte, seinen vorzüglich geplanten Einsatz zu bewilligen.

Wenn alles klappt, kann das Gross-Gallische Heer zu einem Rückzug gezwungen werden. Er will dabei die vielen Beziehungen des Ordens ins Ausland spielen lassen, vor allem jene zum Inselkönigreich und der Rittermark.

Die Grossgallischen Truppen werden von den Reitern, den Kobolden der anderen Bezirke und einer Freiwilligen Truppe Menschen entwaffnet und gefangen genommen. Die Zwerge verbarrikadieren anschliessend alle Handelsrouten, um Verstärkung abzuhalten.

Mit dieser Geiselnahme wollen sie erzwingen, dass die gallischen Diplomaten einlenken und sie mit einer Kohorte der besten Schlichtern Ost-Galliens ihre Forderungen dem General persönlich überbringen.

Alle Söldner Ost-Galliens sollen zurück geholt werden können. Dafür stellt der Orden Sanitäter und Handwerker, die in den befriedeten Gebieten den Schaden des Krieges rückgängig machen sollen.

An der Quelle der Dala anwesend waren alle Vertreter der Ost-Gallischen Regionen, die sich in einem zweiten Teil auch gemeinsam gegen einen Bau eines weiteren Tempels aussprachen, aber dafür für eine Erweiterung der öffentlichen Schwimmlandschaft.

Und so wurde am Ende der Sitzung unter der Leitung vom Grafen von Grautal die Koalition der sieben Zwergenburgen, der defensiven Milizen des Rhonetals und der Gebirgs-, Fluss- und Seekobolde ins Leben gerufen.

Das Treffen ist erfreulich, herzlich und verhältnismässig kurz. Alle verlassen ihre Throne und gehen sich waschen. Nach einer wohltuenden Kur verabschiedet sich Blumenbart von der Ratsleitung und kehrt zurück auf die Landstrasse.

Er will allerdings nicht die Treppen am Nordwall der Dalitaner empor steigen, sondern einen einen Umweg machen, zu den Sedunern. Danach will er die Alpen überqueren und zurück ins Seeland reiten.

Seine Wanderschaft wird allerdings frühzeitig unterbrochen. Kaum ist er aus der Greifsstadt raus, wo der Triumpfzug der aufmüpferischen Banden ausführlich gefeiert wird, wird er angefleht, zu helfen.

Die Banden haben sich bei einer Demonstration in der Rittermark gesammelt um gegen das aufkommende, obligatorische Söldnertum aller Jünglinge des Tals gen Westen zu marschieren. Es ist ein verzweifelte Versuch, das Tal und ihre Installationen nicht an die Republikaner zu verlieren.

Denn das Heer der immer widersprüchlicheren Revolution war nicht angenehm für die nicht latinisierten Sippen in Ost-Gallien. Also sind alle linken Banden der Rittermark und des Mittelwallis gemeinsam gen Westen marschiert, wo sie im Pfynwald, dank einer ausgeklügelten Strategie des Olaf Baumbengel, in der Lage gewesen sind, das grossgallische Heer zu schlagen und bis nach Martinach zurück zu stossen.

Mit Hilfe der belagerten Stadtbewohnern von Martinach konnten sie die Truppen über die Pässe und aus dem Westtor jagen, alles versperren und sich freudig auf den Rückweg machen, um im Kellersystem des Mittelwallis die wiedererlangte Freiheit zu feiern…

So kamen die Pfynbanden in ihren Waffenröcken in die Greifstadt, werden herzlich verköstigt und beherbergt. Der Siegeszug ist so gross, dass man die Hörner und Trommeln, die Glocken und Schüsse des ganzen Tals von dieser Parkbank, auf der Baumbart schon den ganzen Nachmittag verweilt, vernehmen kann.

Er sah an dem Nachmittag eine schöne Seite des Tals, beschmückt mit der triumphierenden Jugend, die leider mit der Zeit wieder verblätterte.

Die Begegnung mit dem jungen Waldgoof lässt Blumenbart aber nicht mehr ruhen und so unternimmt er Versuche, den merkwürdigen Jungen aus dem Park zu finden.

Die Menge aus siegtrunkenen Banden erweist sich jedoch als undurchdringlich für den grossen Magier und das Festgelände ist so verwinkelt und irrwegig, dass er darin wohl stecken bleiben würde.

Also kehrt Baumbart dem Gerangel den Rücken und und macht sich auf den Weg nach Sitten, um dann über den Pass und zurück ins Seeland zu gelangen.

Schliesslich warten auf seinem Schreibtisch an der Universität Latène unzählige Briefe und bestellte Alben seiner Lieblingsbarden; Endo Anacondix.

Jonathan hat es derweilen sehr leicht gehabt und sämtliche Winkel des Festes zu erkunden. Er zeigt sich nur denen, die er mag und findet seine Freunde auf dem Weg zur Baumhütte.

Er lässt sie aber wieder ziehen, als am Strassenrand einen bleichen Jungen mit pechschwarzen Haaren entdeckt, der einen glitzernden Umhang trägt, darin eine Weltkugel hervorbzaubert und die Natur der Täuschung oder die Täuschung einer Natur vorträgt.

Das jüngere Publikum ist von seinen Zaubertricks begeistert.

Interessiert setzt er sich in die Menge und klatscht mit, als der kleine Zauberer seine Sinne immer und immer wieder überlistet.

Karten und Münzen verschwinden in den flüssigen Bewegungen. Seine Stimme gibt nur Symbole und Zahlen von sich. Sein Finale besteht darin einen Hut einer grossgallischen Wache vom Kopf eines Kindes zu zaubern und selbst zu verschwinden.

Jonathan findet den Zauberer recht schnell. Er rennt einmal um den Block und nimmt den hageren Jungen mit zur Baumhütte von Karl, wo die beiden neuen Freunde auch den Rest der Waldgoofen finden. Sie sind alle begeistert von den gerade gehörten Bands und fuchteln mit den signierten Alben umher.

Jakob und Chrigi stimmen immer wieder in Grimmelshäuser`s «Mächet doch en Punkband» ein, bis sie sich zusammen mit dem Magier, der zwar nicht ihre Sprache spricht, aber den Text «Mächät doch än Punkband» sehr geschickt und mit trolligem Ausdruck imitieren kann, tatsächlich ihre erste Punkband gründen: Les Serpents du Bitume.

Sie spielen Lieder ihrer grossen Vorbilder nach und bald auch Stücke, die durch Jonathans Feder entstehen.

Der Zauber Junge ist nicht nur mit Karten und Münzen geschickt, seine Finger tanzen entspannt auf der Leier, sein Sinn für Dynamik und Harmonie reisst die anderen in bahnbrechende Melodien und rassige Rythmen.

Bis lange in die Nacht dröhnt ihre Jam von der alten Heide über den Stadtplatz und lockt viele neugierige Ohren an.

«Es sind gute Goofen» pflegt die Köchin vom Billiard zu sagen. Die weitgereiste Berglerin lädt sie oft in ihre Küche ein und gibt ihnen «etwas anständiges zu essen.»

Sie wissen noch nichts vom Einfall des Grossgallischen Heeres und spielen, unbekümmert, mit viel Herz und Fantasie, sie erfinden die ganze Nacht lang Geschichten und schnitzen an Puppen und Holzschwertern.

Währenddessen schreitet Baumbart endlich auf seinem müden Pferd zum Eingang des Pfynwalds, aber wird abermals von der Weiterreise abgehalten.

Eine Hofdame, die ein Amulett in Händen hält und ihn mit erst unverständlichem Klagen anfleht, ihr zu helfen, bringt ihn schliesslich dazu, von seinem Pferd zu steigen und sie zu beruhigen. Er lädt die Dame ein im Teehaus zur Brücke einige Schlucke zu trinken.

Die Dame spricht manchmal in einer ihm fremden Sprache, aber beherrscht die Zunge der Felsenburger, die sich in der Gegend versteht.

Als sie sich gefangen hat, beginnt sie akzentreich aber sehr verständlich und flüssig ihr Problem zu beschreiben:

«Sie sollten nicht in den Wald gehen, guter Herr, ich spüre eine Gefahr aufkommen! Bitte, begleiten sie mich in die Felsenburg, dort sind sie sicher, wenigstens für die Nacht…

Aber Sie müssen mir helfen. Der Sohn der Felsenburg wird gefangengehalten. Er wurde wegen wiederholtem Ausreissens in den Turm eingesperrt. Sie müssen mir helfen, ihm eine andere Zukunft zu ermöglichen.

Es kann nicht sein, dass er als ein ewig gestrafter Ausbrecher sein Leben beginnt.»

«Vielleicht gefällt ihm ja die Rolle des Sträflings. Es gibt eine ganze Kunstbewegung, die sich für die Sträflinge einsetzt und mit ihnen wunderbare Dinge machen.»

«Der Junge ist kein Verbrecher. Er wird hier niemals glücklich sein. Und hier kann man nur Räuber oder Bulle werden. Er ist keines von beiden.

Er sollte weg, in eine gute Schule, oder in einen Betrieb… Der böse Berater der Burgherrin hat ihn einsperren lassen. Er will ihn selbst behandeln. Ich spüre, wie sein Herz wieder in die einsame Tiefe sinkt…»

«Ich weiss nicht, ob ich ihm helfen kann…» Sagt Blumenbart. Die Dame lässt nicht locker: «Es ist so ein netter Junge, sein Herz ist golden, aber niemand versteht ihn.

Besser gesagt, niemand versucht, ihn zu verstehen. Alle wollen nur die Gunst seiner Mutter erlangen und verwirren sie mit ihren intriganten Wegen. Und sie hat doch immer so viel um die Ohren… Er wird zum Spielball und dabei steckt er voller Wunder. Bitte! Kommen Sie, sehen Sie selber und tun sie etwas.»

Der Weise will sie vertrösten: «Es tut mir Leid, gnädige Frau, ich habe Pflichten die auf mich warten…»

«Bitte! Ein Tag, nicht mehr, sie werden verköstigt und in den schönsten Gemächern der Region untergebracht. Nur ein Tag, ich bitte Sie. Niemand wird ihm helfen! Helfen Sie uns, oh, weiser Ritter, Sie sind unsere letzte Hoffnung.»

Zu seiner eigenen Verwunderung willigt er ein, woraufhin die Hofdame unter Tränen ihren Rock anhebt, Barfuss einen Freudentanz aufführt und ihn an der Hand zurück auf die Strasse zieht, wo die freudigen Karren und Kapellen in den Festlichkeiten aufblühen.

Er läuft ganz rot an und lässt sie kurz auf der Strasse stehen, um die Getränke zu begleichen. Dann machen sie sich gemeinsam unter dem Mondlicht auf den langen Weg zur Felsenburg.

Der Druide lässt die aufgewühlte Hofdame auf seinem Pferd reiten und schreitet zu Fuss den weiten Weg dem Illgraben entlang bis zum Fanöischi und die felsige Strasse hinauf.

Niemand erahnt den Vergeltungsschlag der Republikaner.

Wortkarg und verwirrt erreicht der Reiter und das Pferd zu später Stunde das Tor zur Felsenburg, aber die Hofdame springt im richtigen Moment vom Sattel, regelt in schwindelerregender Geschwindigkeit alle Formalitäten und so sitzt Blumenbart bald in einem wunderschönen Zimmer, mit Blick zum Hafen, zur Greifsburg und weit hinauf zu den Bergspitzen der Südrampe, im Nordturm der Felsenburg. Die Nacht ist noch erfüllt von den Festgesängen und Feierlichkeiten im Tal und in den Burgen.

Es klopft und die Hofdame tritt ein: «Hier sind ein Handtuch, Seife, verschiedene Hautcremen und Bürsten. Bitte, nehmen Sie ein Bad in der goldenen Badewanne. Man hat den selben Ausblick. Rauchen Sie bitte am Fenster und falls Sie irgendetwas brauchen, ziehen sie an dieser Schnur und reden sie in diese Röhre.

«Ich danke Ihnen, gnädige…»

Die Dame lächelte ihn wärmend an und huschte ihn in sein Zimmer zurück.

Nach einem wohltuenden Bad legt er sich ins weiche Himmelbett und fällt in einen traumlosen, tiefen Schlaf.

Was niemand in der Felsenburg weiss, ist, dass der junge Jonathan sich mit seinem selbstgebastelten Gleiter und seiner Waldgoofen Ausrüstung schon lange abgehauen ist.

Die wahrlich wunderliche Fügung, dass es sich bei dem Waldgoof, den Baumbart in der Abenddämmerung auf der anderen Seite des Tals getroffen hat, um den selben Jungen handelt, den er nun für die Hofdame aus dem Hausarrest befreien soll, werden sich die beiden zeit ihres Lebens freudig in Erinnerung rufen.

Baumbart schaut ein letztes Mal hinab ins Tal, wo mitten in der Lichterschar Jonatahn am Geländer der Baumhütte hängt und hinauf zur Felsenburg starrt.

Von seinen Freunden hat er erfahren, dass sie den den ganzen Abend in Tischfussballformation durch die Meute geschwirrt sind, auf Hüfthöhe, um von Keller zu Keller zu ziehen und ihre Lieblingsbands zu hören.

Die anderen Waldgoofen waren ohne ihn in einem Konzert der Grimmelshäuser gelandet, bei dem die Band als dritte Zugabe «Mächet doch än Punkband» angestimmt haben und so den Abend zu einem unvergesslichen Höhepunkt in der Geschichte der Waldgoofen markieren.

Die durchschnittlich fünfjährigen Bandenkinder sind auf die Verstärker geklettert und haben sich durch die aufgebrachte Pogomeute tragen lassen.

Jonathan, der diese glorreichen Geschichten alle verpasst hat, wird sie in seinem Erstlingswerk vermerken und ausserdem ein Leben lang mit dem hageren Zauberer Martinus R. Zambaz befreundet bleiben.

Als die letzten Gesänge der Stadt dem Schnarchen weichen, huschen die Soldaten des Gross-Gallischen Heeres, mit den Söldnern, Wild-, Kobold-, Zwergen- und Kopfgeldjägern und Mitglieder einiger kollaborierenden Banden in einer Nacht- und Nebelaktion die Stadt und meucheln hunderte der verschlafenen Festgemeinschaft. Nicht nur aufständische Bandenmitglieder, auch lokale Wirte, Bauern, Bedienstete, Strassenkinder und Tiere, die in den Kellern, auf den Feldern und auf den Strassen liegen.

Die Baumhütte wird von den ersten Streifzügen der Soldaten ignoriert. Die Waldgoofen kauern zusammen unter ihren grünen Mänteln. Martinus steht plötzlich auf und flüstert: «Da!» und verschwindet.

Ein Jäger aus der Region hat den Soldaten den Tipp gegeben und grinst schelmisch, als die Waldgoofen von den angeschlichenen Truppen in Säcke gestopft werden und mit hunderten ihrer Freunde und Teils Verwandten in den Schelmenturm gesteckt werden.

Nur Häuser, die eine Trikolorer-Fahne besitzen und hissen werden vom Sturm verschont. Alle anderen Haushalte werden zusammen getrieben und auf die Stockwerke der Gefängnisanlage verteilt.

Dort werden alle Sträflinge gemustert und vor ein eilends erstelltes Kriegsgericht gezerrt.

Jonathan starrt wieder hinauf, zur Felsenburg und es landet zwischen den Gitterstäben eine graue Taube, die ihn besorgt und mitleidig angurrt.

Der Laufbursche zieht sich schwitzend aus den Visionen der Kugel und starrt geschockt in alle Richtungen. Er scheint ein Anfall Panik zu haben und verlässt fluchtartig den Wagen der Seherin und rennt wieder in die Nacht um zwischen den Bäumen zu verschwunden.

Seine Rastlosigkeit wird ihn an dem Abend fast das Leben kosten, aber die Seherin lässt auf ihn aufpassen.

Er kämpft sich tapfer durch die Büsche und fühlt sich dabei fürchterlich. Er weiss, dass seine Freunde in Gefahr schweben. Die Bande des Müllers Sohn sind üble Gesellen.

Mit aller Kraft versucht er einen Weg durch das Dickicht zu finden um zurück zur Strasse und dann zum Dorf zu gelangen, aber er findet sie nicht und seine zerkratzten Arme schmerzen und krampfen.

Zitternd gleitet er zu Boden und kann nicht gegen die Erschöpfung ankämpfen. Auch ist er wirklich sturzbetrunken. Er verliert das Bewusstsein im Schnee.

Die Seherin erscheint in seinem Traum und legt ihre eigene Karte auf den Tisch: Den Trumpf der Seherin.