PAD MORELLI’S «BERGEN» IV

BUCH 1: Die Wesen der Welt

Y: Die Legende der Trümpfe

Wir schreiben das Jahr 1923 in einem Dorf an der Rhone. Die hohen Berge ragen in den Sternenhimmel. Ihr Pelz aus verteilten Baumgruppen und ihre flachen Grasscherben und Steinwüsten sind mit einer dicken Schneeschicht bedeckt, der die Töne im Tal und das Rauschen der Bäche verschluckt.

Das Staatsgebiet des Kanton Wallis, einer der 26 Teilstaaten der neutralen helvetischen Konföderation aus Republiken im Herzen der Alpen – auch bekannt als die Schweiz – wird in diesen weltweit turbulenten Zeiten die Wahlheimat vieler damals lebender Schwergewichte der intellektuellen und künstlerischen Welt.

Die entlegenen Gegenden des alpinen Gebirges, das sich von Frankreich bis Österreich auf dem europäischen Kontinent erstreckt, sind eher schwach besiedelt, und die Menschen, die sich in den Tälern und auf Plateaus Wohnräume und Werkstätten erbaut, oder diese übernommen haben, nehmen von der Neuentdeckung durch die Aussenwelt resigniert und misstrauisch Notiz.

In den Städten schliessen sich die Menschen allerdings der euphorischen Bewunderung der mysteriösen Ruinen, Felsenburgen und Kellersystemen an. Die neuen Schwärmereien führen zu vielen sozialen Debakeln zwischen Sprossen der katholisch-konservativen Bevölkerung und den links-liberalen Reisenden, die sich im Tal an Mythen und Märchen erinnert ihren Leidenschaften hingeben.

Zwischen den Einflussgebieten vom belebten Mittelwallis – also den Städten Siders und Sitten – und den schwärmerischen Glaubensgemeinschaften des Oberwallis, die sich in Vereinen und Paraden eine Identität schaffen, weilt im Sprach-Grenzgebiet die alte Stadt Leuk.

Leuk liegt am Rande des Abgrunds. Die Fläche erlaubt keine Expansion, der Landadel und die mordenden Revolver-Helden des Pfynwaldes hemmen die Entwicklung der abgehängten Randregion, die aber dank ihren heissen Quellen und Wanderrouten, hoch oben in den Bergen, die Zukunft im Tourismus sieht.

Ganz unten im Tal, auf der Schattenseite der Bergmauer sind die Dächer bedeckt von flüchtigem Dezemberschnee, Rauch und mattes Licht dringen aus den bescheidensten Behausungen des Bezirks, wo Frauen und Kinder in liebevoll gehaltenen Haushalten von der eisigen Kälte verschont werden.

Die einheimischen Kraftwerk-, Industrie- oder Transport-Arbeiter, die meistens noch Vieh oder geerbte Reben halten sitzen in der Dorfkneipe und überlassen ihre Heime der Geborgenheit.

In der Dorfkneipe «Zür Brücke», Treffpunkt der Männer, die es zuhause nicht aushalten, wird ein heftiges Wortgefecht ausgetragen.

Das Thema spaltet die Gemüter. Es wird auf Tische gehauen, die Stimmen sind erzürnt und die gegenseitige Verachtung entfesselt.

Draussen hören die Maultiere, Hunde und Pferde besorgt zu, während die dumpfen Stimmen sich mit Ausrufen und Reaktionen des Publikums abwechseln.

Der Grund für den Streit ist so alt wie die Menschheit selbst. Die Konfrontation zwischen Toleranz und Xenophobie.

Am Waldrand hat eine Gruppe Fahrender ihr Lager aufgestellt. Die Hirten und Jäger des Dorfes haben sie entdeckt. Der Sohn des Müllers hat bereits die Polizei verständigt – was für Protest unter den Freunden der Fahrenden sorgt.

Denn eine Minderheit aus Aussenseiter, Poeten und Künstlern, die ihr Brot in den Unternehmen ihrer Familie verdienen nimmt die Fahrenden als ein magischer Zug wahr, der voller Wunder und Erinnerung steckt. Sie sehen die wandernden Künstlerinnen und Künstler als eine Art Fabelwesen, die dort verweilen, wo die Kräfte des Lebens noch nicht verdrängt worden sind.

Bei den anderen lösen die verkleideten Kunstfiguren Misstrauen aus. Der Sohn des Müllers hetzt hämisch gegen die Angereisten: «Nichts als Diebe und Bettler! Solch ein Lumpenpack gehört ausgerottet!» Viele stimmen ihm bei.

«Es ist eine schmutzige, minderwertige Rasse, die vertrieben wurde und jetzt unser Land mit ihrem unsittlichen Leben verschmutzt. Und dafür wollen sie auch noch Almosen kassieren!»

Der Gärtner steht abrupt auf und stellt sich dem jungen Unruhestifter entgegen. Entsetzt kämpft er gegen die Tränen an und zischt:

«Mir graut es vor Menschen wie Dir! Immer alles töten was man nicht kennt! Du widerst mich an! Diese Leute könnten Dir Dinge beibringen, von denen Du nicht zu träumen wagst!»

«Solch Teufelsgeschwätz will ich gar nicht hören! Ins Feuer mit diesem Heidenvolk!» schreit der betrunkene Müllers-Vater, der immer dem Gerücht nach, seine eigene Frau angezeigt und ins Irrenhaus gebracht hat. Er steht auf und packt den Gärtner an seinem Hemdkragen. Der Betrunkene schnauft dabei schwer, aber das hilflose Zappeln des schmächtigen Gärtners bringt Freude in sein Gesicht.

Und so wird bald aus dem Wortgefecht ein Gerangel und aus dem Handgemenge eine Rauferei. Fäuste treffen hart auf Gesichter, Stühle werden geworfen. Gläser klirren, Tische rücken und der Gärtner und seine wenigen Verbündeten versinken im Schmerz der Niederlage.

«Wo ist eigentlich der Sp… Sp… Sp… Spinner hin? Mit dem habe ich auch noch ein Hühnchen zu rupfen!» Ruft der Sohn des Müllers durch den Krach. Verächtlich wird gelacht.

Der Spinner ist ein in der Gegend aufgewachsener Junge. Nachdem ein Skandal in seiner Kindheit sein Familienleben zerstört, wird er vom Posthalter aufgenommen und beginnt seinen Dienst als Laufbursche der Post…

An besagtem Abend hat er sich mit seinen Freunden in der Hafenbar zur Brücke getroffen. Bei seiner Tour hat er schon einiges zu trinken offeriert bekommen und so ist er nicht bei klarem Bewusstsein, als die Bande der Möchte-Gern-Bündler unter ihrem Führer, dem Sohn des Müllers, über die Schwelle treten und ihn und seine Freunde abschätzig wahrnehmen.

Als ihm klar wird, dass die Bande des Müllers Sohn immer mehr Anzeichen macht, ihn und seine Freunde zwischen die Krallen zu kriegen um ihrer provinziellen Langeweile wenigstens mithilfe von sadistischem Vergnügen entfliehen zu können, wächst eine unwirkliche, kreischende Angst im stotternden Laufburschen.

Er verschwindet unbemerkt, lange bevor die geschlagenen Freunde der Fahrenden durchs Fenster auf die Strasse geschmissen werden und von ihren Gegnern verfolgt werden.

Der Laufbursche ist aus dem kleinen Fenster in der Damentoilette aus der Säufer-Tränke geklettert und hat dann unter überwältigender Angespanntheit entschlossen, der Strasse entlang zu rennen, Richtung dunklen, kalten Wald.

Rennend versucht er seine Gedanken zu ordnen und der Realität gegenüber zu treten, obwohl er wegen den vielen eingeschenkten Schnäpsen und gegönnten Bieren kaum mehr klar denken kann. Er hat Mühe Schlüsse zu ziehen, aus den aufkommenden Bildern der bedrohlichen Bande, die schon seit längerem ihm und seinen Freunden zu schaden. Es kommt so weit, dass er droht, im tiefen Wald zu erfrieren.

Im Dorf hat der Tumult um die Streiterei eine Kettenreaktion ausgelöst, wonach alle Fensterläden ruckartig geschlossen wurden und vom ersten Klirren weg überall gespannt lauschende Ohren in die Dunkelheit horchen.

Der Wirt versucht vergebens die Szene zu schlichten und denkt dabei eigentlich auch nur an die Kasse. Es gelingt ihm nicht die Bande des Müllers auf ihrem Weg aufzuhalten. Dieser führt mit höhnischen, fast tänzelnden Schritten und Tritten, Würfen und Faust hieben den Freunden des Laufburschen.

Der Gärtner sackt schliesslich mit erhobenen Fäusten auf der Strasse in sich zusammen, als man ihn mit einer Glasflasche am Kopf trifft und der ängstliche Hirte in der Ecke der Bar gibt einen letzten, kläglichen Laut von sich, als ihm der Sohn des Müllers selbst unauffällig mit aufblitzender Grausamkeit ein Messer zwischen die Rippen sticht und ihm unter einen Arm greift.

Der Trubel lichtet sich. Die Leiche des Hirten wird von der Bande des Müllers unbemerkt fortgetragen und später im Wald versteckt. Der Gärtner wird auf der Strasse liegen gelassen..

Angst macht sich breit unter den Gemässigten des Dorfes. Ein Schatten zieht über das Dorf. Alle fühlen es. Die Möchte-Gern-Bündler machen in ihren nächtlichen Reden die Fahrenden dafür verantwortlich.

Alle wissen, dass die Wahrheit bereits gefallen ist, die Liebe folgen wird und bald alle Reiter der Verwüstung über das angeschlagene Dorf wüten werden.

In der selben Nacht scheint schwaches Kerzenlicht aus dem Wagen der Seherin. Und vor dem Wagen liegt ein abgetragenes Paar Schuhe.

Er sitzt bei der Seherin, auf einem Teppich auf den Bodenbrettern der Kutsche, in eine dicke Wolldecke gehüllt und auf einem Fell sitzend. Die grossen Räder heben sie etwa einen Meter über den gefrorenen Waldmattenboden.

Im Innern ist es düster. Eine Kristallkugel liegt eingebettet in Tüchern und Kissen vor der Seherin auf einem kleinen Sockel. Topfpflanzen verbreiten frische, orientalische Düfte. Ein Feuerherd strahlt Wärme in den Raum.

Sie verabreicht ihrem Gast einen sonderbaren Trank. Er sitzt im Schneidersitz und schlürft von der heissen, bitteren Flüssigkeit, die seine Glieder leicht werden lässt und seine Sinne zum Kribbeln bringt.

Seit zwei Tagen erzählt sie ihm die Geschichte eines Kartendecks, dass vor 2000 Jahren in einem Stollen der Region versteckt wurde. Ihre Erläuterung ist bei den den Pfynräubern im Mittelalter angelangt, die einige Kopien des Blatts in die Hände bekommen haben und die einzelnen Karten als Erkennungszeichen des Widerstands genutzt haben sollen.

«Sie verstanden die eigentliche Botschaft der Karten zwar nicht, aber sie verteilten sie an die Mitglieder der Banden, was die Rekonstruktion der darin schlummernden Geschichte immer unmöglicher machte.

Nach der Renaissance gelangte eine Neufassung des Spiels, das kirchenkritischen Kreisen in Leuk-Stadt in die Hände kam, über eine verrückte Reihe an Zufällen bis zu einem legendären Pirat, der ein selbst-vervollständigtes Deck in die ganze Welt hinaus trug.

Hier, im Pfynwald, wurden die Bilder und selten auch vollständige Decks des Spiels von den Kindern als Mutmacher auf ihre gefährlichen Leben mitgenommen.

Lange Zeit wusste niemand mehr so recht, wie man die Karten dazu bringt, ihre Geschichte Preis zu geben. Man spielte mit ihnen, aber ohne Fantasie.

Eher wurden sie bei Wettstreiten eingesetzt, die mit den Karten entschieden werden sollten, oder man praktizierte doofes ewig immer wieder Aneinanderreihen zur Befriedigung willkürlicher Ordnungsobsessionen und zur vermeintlichen Vertreibung der Langeweile.

Man begann, die Karten grösstenteils dafür zu nutzen, Geld und Äcker zu erhaschen, in leiblicher Gefahr von Menschen, denen man nicht traut und die man übers Ohr hauen will. Die Geschichte dahinter wurde immer mehr von einer immer radikaleren Haltung in den öffentlichen Häusern und einer geschäftlich orientierten Zeitvertreibung totgeschwiegen.

In der Abwanderung vieler Adeliger in die fahrenden Kulturen begannen dann aber immer mehr Zirkusse und Wandertheater sich für die Karten zu interessieren. Die Künstler und Magier der Landstrasse sahen darin verschlüsselte Informationen über vergangenes Leben.

Mein Onkel hat mir die erste Version dieses Kartendecks geschenkt, oder besser gesagt, eine verpfuschte Kopie davon. Aber seither liebe ich jedes Bild, jede Geschichte und jedes Detail in den Ornamenten des Decks.

Das Wissen, das ich Dir geben will, kann ich Dir durch diese Geschichte verdeutlichen. Und sie passt zu Dir, wie ein Faust auf ein Auge.»

Der Laufbursche macht wieder Anstalten sich aufrichten und gehen zu wollen.

«Nun, bleib schon. Du Spinner. Es wird dir helfen. Die Geschichte von Jonathan von Felsenburg, einem Barden, dessen ereignisreiche Geschichte nach fast 2000 Jahren wiederbelebt werden kann, nur anhand dieser Karten…»

Das Gesicht des Spinners pendelte zwischen Faszination und Zweifel. Wieder verspürte er den Drang, zu gehen.

«Jonathan ist einer der Wahnsinnigen. Er ist ein Spinner, wie Du. Ein Verrückter. Ein Narr. Trotzdem wird er der Held sein in diesem langen und turbulenten Märchen, das sich in 21 Kapiteln vollzieht.»

Der Bote steht auf. Sein Unwohlsein hat einen neuen Höhepunkt erreicht. Sein Kater ist zwar abgeflaut, aber sein Unbehagen gegenüber seinem Chef und die Sorge um seine Freunde stechen ihm in die Backen bringen ihn instinktiv auf die Beine.

Er kann sich nicht halten, schwingt die Tür auf und schreitet in der Dämmerung in Richtung des verschneiten Waldes. Zu seiner grossen Überraschung folgt ihm die Seherin, ohne zu zögern. Der Ton in ihrer Stimme ist ruhig, geduldig und wohlwollend.

«Nun, warte doch, Laufbursche. Geh nicht. Es wird Dir nicht schaden, zu bleiben und die Geschichte zu hören. Es wird Dir helfen.

Wahnsinn macht den meisten Menschen Angst. Er schürft die Grenzen des Wahrnehmbaren. Denn niemand kann Wahnsinn verstehen.»

Nach kurzem Zögern zieht er weiter.

«Ich weiss, Wahnsinn wird geprügelt, weggesperrt, vertuscht, verdrängt und geleugnet – und oft wurde er verbrannt, gehängt oder gekreuzigt. Aber in meinen Augen bist Du nicht verloren und schon gar nicht verdammt. Du hast nur eine rege Fantasie, die Du kontrollieren lernen kannst. Vertrau mir. Ich will Dir nichts böses.»

Er hält inne, sie hakt sich bei ihm ein und führt ihn zurück in den Wohnwagen.

«Mach Dir keine Sorgen. Dein Leben kann warten. Fühl Dich frei. Es wird sich alles fügen. Die kannst es schaffen. Keine Sorge.»

Mit diesen Worten nimmt sie seine Hände badet sie in einer Schüssel mit warmem Wasser.

«Wasch Dein Gesicht. Wasch es von all den Masken, all den Rollen die man Dich hat spielen lassen. Darunter verbirgt sich dein wahrer Geist, der weiss, dass er niemals verzweifeln wird und die Welt so nimmt, wie sie ist.

Denn Du hast eine Aufgabe, die Du mit allen Gaukelnden, Dichtenden, Spielenden und Singenden gemein hast; Die Trümpfe im richtigen Moment hervorzulocken und zu Deinen Verbündeten zu machen.»

Er gehorcht und wäscht sich mit dem weichen Lumpen Gesicht und Nacken. Wie in Trance schaut er in die Augen der Seherin. Sie zieht seine Schuhe aus und wäscht seine Füsse.

«Du kannst der Welt helfen, Du kannst den Schmerz der Unterwelt und den Schmerz der Ordnung verstehen und ihn lindern.

Also bleib sitzen, hör zu, es wird Dir helfen.»

Währenddessen werden im Dorf wüste Gerüchte laut. Man sagt, der Laufbursche und der Hirte seien von den Spielleuten am Rande des Waldes ausgeraubt und abgestochen worden.

Die betrunkenen Ehemänner und jungen Lehrlinge übertönen sich mit fürchterlichen Beleidigungen und Schimpf-Wörtern die den angehäuften Frust der versammelten Gemeinde plötzlich unwichtig macht.

Für die Dorfbewohner ist nun nur noch eines wichtig: Gemeinsame Rache an den Fahrenden, für den Mord am Pöstler, am Hirte und wegen allen anderen Dingen, die in dem lauten Gepoltere den Fahrenden in die Schuhe geschoben wird.

Niemand im Dorf weiss, dass der Laufbursche bei der Seherin ist, wo sie ihn weiter in das Wissen der Karten einweihen will:

«Es ist nicht das erste Kartendeck, in dem ein Teil Geschichte geborgen werden sollte. Einer französischen Legende zufolge haben die alten Ägypter damit begonnen, über Kartendecks all ihre Weisheit zu bündeln und so wenigstens ihre Weisheit vor der Verwüstung durch die Seevölker zu retten.

Als der Angriff auf das ursprüngliche, ägyptische Reich bevorstand, hätten – der Legende nach – die Weisen nach einer Lösung gesucht, um ihr Wissen vor der Zerstörung retten und weiter geben zu können.

Der Rat der Weisen erwog zuerst, vereinfachte Versionen ins Innere der Pyramiden zu meisseln, wo sie sicher wären vor Eindringlingen. Sie liessen aber davon ab. In der Hast wäre die Vermittlung verpfuscht worden, und im inneren der Pyramiden hätte das Wissen vergessen gehen können.

So dachte man daran, das Wissen einfach an die klügsten Menschen ihres Reiches weiter zu geben und sie damit in die weite Welt zu schicken, aber es wurde entgegnet, dass der Mensch vergisst.

Ausserdem kann auch der klügste Mensch zum Narren gehalten werden – zerfallen, als Spinner, in den unendlichen Strassen der neuen Welt.

Deswegen, so die Legende, soll der Rat der Weisen beschlossen haben, die Geschichte und die Einsichten ihrer Kultur in einem Kartenspiel zu bündeln und es unter das Volk zu mischen.

Anders als Stein und Geist, wird das Laster nie zerfallen. Zügellos verbreitet es sich, unter Freund und Feind, über Land und See. Und so konnte im Laster des Glücksspiels die Weisheit der alten Welt verwahrt werden, allen Verwesungs-Mechanismen zum Trotz, da die Lust der Menschen zum Spiel und zum Traum nie erloschen ist und wohl nie erlöschen wird…»

Die Seherin verlangt das Kartendeck und der Spinner reicht es ihr. Sie breitet die Karten aus.

«Das Kartendeck besteht einerseits aus den einundzwanzig Trumpfkarten und andererseits aus vier unterschiedene Familien.

In Deinem Deck sind sie mit Ecke, Schaufel, Kreuz und Herz gezeichnet. Sie stellen verschiedene Kräfte dar, die sich in den Ambitionen der Menschen manifestieren.

Diese sind: Rebellion, als Schaufel oder Schwert, Kontrolle, als Kreuz oder Knüppel, Wahrheitssuche, als Ecke oder Edelstein und Liebe, als Herz oder Rose.

Diese Mächte können unter einander in Streit geraten, was verheerend ist für den Ablauf der Geschichte. Die Konflikte unseres Jahrtausends lassen sich anhand dieser Konfliktlinienerläutern. Aber es kann vorkommen, dass Frieden entsteht.

Überall auf der Welt laufen Partien. Die Karten werden verteilt und die Figuren steigen in die Prozesse des Kräftemessens, während die Trümpfe den Ablauf beeinflussen.

Das Schicksal bestimmt, ob es zu exzessiver Kontrolle kommt, oder zu zügelloser Gesetzlosigkeit – und ob die Liebenden unddie Wissenden überleben, oder der Fehde zum Opfer fallen.

Seit unergründbaren Zeiten geraten Ordnung und Widerstand regelmässig in Spiralen der Ungerechtigkeit aneinander und gehen daran beide zu Grunde.

Imperien und Stämme, Staaten und Banden, Ritter und Räuber, Prinzen und Piraten, Siedler und Banditen, Revoluzzer und Soldaten – oder Bullen und Ganoven… Beide Seiten jedes Mal von neuem angetrieben von unerschöpflichen Quellen der Missgunst.

Es ist nicht ein Konflikt zwischen Gut und Böse, Licht und Dunkel… Nein, es ist komplizierter. Es ist der Kampf zwischen regulierenden und sich befreienden Mächten. Und oft ist das erste Opfer in einem unschönen Spiel die Wahrheit.»

Der Laufbursche hat den Blick ins Leere gerichtet. Er hört zu. Es spricht ihn an. Seine Abwehr baut sich langsam ab.

«Siehst du das Potential des Spiels? – Freundschaft kann entstehen. Die Griechen sahen diesen Zustand des Friedens in den Halb-Brüdern Apollon und Dionysos, die gemeinsam das Orakel von Delphi hüten.

Die schwarzen Mächte, Schaufel und Kreuz, sind nicht gut oder schlecht, nur können die Figuren, die von ihrer Macht beseelt werden auf gerechte oder ungerechte Art mit einander umgehen – was wiederum die Ausgangssituation der darauffolgenden Spielrunden prägt.

Denn die Menschen treten in diesem ewigen Rundenspiel, mal gerechter, mal verbissener. Sie werden zurückgeworfen und wieder aufgebaut. Und immer müssen sie die Fehler ihrer Vorgänger ausbaden.

Verläuft der Konflikt zwischen Sträflingen und Justiz auf gerechte Art, so kann eine Kultur sich vereinen und sich gemeinsam an der Weisheit und der Liebe vergangener Zeiten erfreuen.

Sind die Mächte jedoch verbissen darauf, die andere Seite auszulöschen, so fällt die Welt in sich zusammen und reisst alles mit, was das geistige Leben ausmacht.

Ob in systematischer Verfolgung der Unterwelt oder in blutrünstigen Umstürzen der Machtverhältnisse – die Menschheit leidet, wenn der gegenseitige Respekt der schwarzen Mächte sich in Gewaltspiralen auflöst.

Mit den richtigen Augen lässt sich in den Karten der Lauf der Jahrtausende erblicken. Denn es ist nicht das Leben ein Spiel, sondern jedes Spiel ein Leben.

Besser gesagt; In jedem Spiel widerspiegelt sich das Ringen dieser Kräfte während der Dauer des Lebens eines bestimmten Narren.

Mit diesem Wissen kannst Du durch die Zeit reisen. Wenn Du Zeit und Raum bestimmst, kannst Du auf die Suche gehen nach Figuren, sie einordnen und den Verlauf des Spiels festhalten.

Es ist darauf zu achten, dass in jeder Epoche das verlierende Zeichen stärker vertreten ist, als es in den Geschichtsbüchern vermerkt wurde. Wenn die Ordnung die Rebellion verdrängt, wird diese klein geredet und an den Rand gedrängt und wenn die Rebellion die Ordnung stürzt, wird diese parodiert, vorgeführt und zerrissen, obwohl diese einfach im Untergrund verschwindet.

Die Schwächere Seite handelt weiterhin im Verborgenen, flüchtet in die Unterwelt und versteckt sich vor den Chroniken der Zeit – und überlebt, egal wie stark sie geschwächt wird.

Das ist das Geheimnis: Der Konflikt ist unendlich.

Die Staatsmacht wird von den Kreuzkarten ausgeführt. Kreuz, ob als Instrument der Hinrichtung oder als das Zeichen moralisierender Gruppen von Fanatikern, die die gänzlich Unterwelt zerstören wollen.

Den Kreuzkarten kann man alle Formen der Hegemonie, der Kontrolle und der Verfolgung zuordnen, die sich vor und nach den alten Ägyptern haben vollziehen können. Durch Intrige und Kalkül gebärt das Kreuz immer wieder grosse Herrscher, die mit eiserner Disziplin die völlständige Kontrolle an sich reissen wollen.

Auf dieser Achse des Spiels, die etwa wie Schach funktioniert, gibt es keine Lösung. Der Konflikt hat kein Anfang und kein Ende; egal wie viele Gauner eingesperrt werden, Kriminalität wird bestehen bleiben und egal wie viele Revolutionen entfachen, eine Kontrollmacht wird sich aus den Trümmern bilden. Keine der schwarzen Mächte wird je die andere auslöschen können.

Aber die Geschichte der Menschen wäre hoffnungslos, traurig und deprimierend, wenn es nur die schwarzen Mächte geben würde. Das Hin-und-Her zwischen Meuterei und Disziplinarverfahren wäre nicht erfüllend genug, um die Götter zu unterhalten.»

Der Blick der Seherin trifft tief ins Innere des Spinners und entfacht in ihm eine warme Geborgenheit. Sie zündet eine Kerze an und fährt fort:

«Und so kommt die Liebe ins Spiel… Liebe ist eine unendlich starke Macht, die Leben geben, retten und pflegen will. Es ist der romantische, leidenschaftliche Teil der Gefühlswelt, der stärker als Hass und stärker als Rache ist und alles verstehen, akzeptieren und heilen kann.

Liebe kann Lebewesen völlig einnehmen, sie zum äussersten bringen, um das Leben zu konservieren. Liebespaare, gefährdete und beschützende, erlangen durch ihre Liebe unendliche Kraft, um ihre Liebsten zu unterstützen, zu stärken und am Leben zu halten.

Die Figuren der Liebe bewirken in der Regel kein Leid, aber können vom Leiden heimgesucht werden. Die Liebe versucht, nicht von den schwarzen Mächten – Kreuz und Schaufel – verhindert, geschädigt oder zerstört zu werden.

Und schliesslich kommen wir zur letzten Macht; Dem wertvollsten Schatz der Menschheit: Die Klugheit. Sie wird von den Karten des Ecken Zeichens verteidigt, die auf der ewigen Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit den Konflikt zu verfolgen und einzuordnen suchen.

Durch Aufklärung und Deduktion wollen die Kräfte der Edelsteine die Verbrechen aufdecken, Gerechtigkeit walten lassen, das Gleichgewicht wiederherstellen und Frieden herbeiführen.

Auch sie werden von den dunklen Kräften des Spiels gejagt und müssen sich gegen die Schaufel und Kreuz behaupten.

Dieses Schema, das der Legende nach älter ist, als unsere geschichtliches Bewusstsein, ermöglicht Dir, Verhältnisse zu relativieren, Hoffnung zu kultivieren und Dich in vergangenen Zeiten umzusehen.

Mithilfe der Karten kannst Du die Dramen Deiner Zeitgenossen ergründen, denn Dein Auftrag ist es, sie zu besingen und beschreiben. Denn Du bist ein Narr!»

Der Laufbursche schaut etwas irritiert in die Augen der Seherin. Sie fährt unbeirrt fort:

«Sei stolz auf diesen Titel! Du spinnst! Du bist verrückt! Und damit nimmst Du die mit Abstand interessanteste Position im Spiel ein.

Parallel zum Lauf der Geschichte müssen die Narren in einundzwanzig Etappen ihre Absichten beweisen, um so das Spiel in eine andere Richtung lenken zu können… Die Narren helfen im verborgenen, den Lauf der Dinge zu beeinflussen und mithilfe der Trümpfe die Welt, die Liebe und die Wahrheit zu retten.

Aber sie müssen sich den Prüfungen stellen, einer nach der anderen, ansonsten hat das Gute keine Chance. Die Narren müssen sich beweisen, müssen mutig sein, über ihre Schatten springen und gaukeln, was das Zeug hält…

Sie müssen den Magiern, den Orakeln, den Herrscherinnen und Herrschern, den Heilenden, den Liebschaften und den Fahrenden beweisen, dass ihre Absichten rein sind von schwarzen Gedanken. Sie müssen sich vor den Gerechten und den Eremiten, vor den Rädern des Schicksals und den Kräften der Welt beweisen.

Sie müssen sich vor den Gehängten, den Toten und den Gemässigten beweisen.

Sie müssen sich vor dem Teufel beweisen und in den Gefängnissen. Unter den Sternen und dem Mond, unter der Sonne und vor Gericht.

Nur so können sie die Welt in die richtige Richtung lenken, den Konflikt beenden und die Liebe und die Wahrheit gewinnen lassen, während sich Ordnung und Widerstand versöhnen.

Die Narren sind die Helden. Der Konflikt berührt uns alle, direkt oder indirekt, und wir alle können nur entstehen, wenn die Liebe überlebt.

Schafft es der Narr, die Trümpfe auf seine Seite zu ziehen, so werden viele Opfer vermieden, viele Rache-Spiralen vereitelt und beide Seiten des Konflikts erhalten genügend Weisheit, um die jeweils andere als nötiges Gegengewicht anzuerkennen, damit Freundschaften entstehen können, zwischen Ordnung und Chaos.

So kann eine Zeit des Verständnis und des Friedens entstehen, ein Gleichgewicht, in dem Kultur und Philosophie sich entwickeln können und der Mensch der Verwirklichung seiner Träume näher kommt.

Aber Achtung! Das Kartenlesen ist keine eindeutige Wissenschaft. Es steckt auch keine Magie dahinter, es ist Spielerei und Dichtung. Es ist nur für Verrückte. Das Spiel der Narren. Versuche nicht, das Spiel einzusetzen um tatsächlich Dinge geschehen lassen. Du wirst enttäuscht werden.

Das einzig magische daran ist Deine Fantasie, die mit diesen Konstellationen Assoziationen schaffen kann und Dich Dinge erahnen lässt, wenn Du dafür die Offenheit aufbringen kannst.

Es ist ein Schema, um Menschen und ihre Motivationen zu verstehen und die eigenen anzupassen. Aber es ist nur ein Spiel. Verstehst Du?»

Der Laufbursche nickt.

«Die Karten sollen den Narren helfen, Wahnsinn und Verlorenheit zu bekämpfen und ihren Platz in der Gesellschaft zu finden, und zwar als Gaukler! Diese Art der Identitätsfindung wurde von den fahrenden Völkern kultiviert und weitergegeben, um die Kunstschaffenden, die in ihren Zug einsteigen, auch sicher wieder nach Hause bringen zu können.

Man kann nicht wissen, ob die Legende wahr ist, aber sie spendet dem Spieler Hoffnung und Hellsicht. Und wenn die Narren verstehen, dass es darum geht, Weisheit und Liebe zu schützen, wissen sie um ihre Aufgabe: Den Schmerz der abgewürgten Opfer der Ungerechtigkeit zu verstehen, zu besingen und zu beschreiben.

So entkommen sie der Verlorenheit und helfen der Welt, die Trauer wieder in Freude zu wandeln und neue Leben schenken zu können – ob durch geistige Neugeburten oder Kinder.

Tun die Gaukler dies nicht, so versinkt ihr Leben im Wahn, spaltet sie ab von der Welt. Wenn sie es nicht schaffen, ihr Können vor den einundzwanzig Trümpfen zu beweisen, werden sie dazu verdammt in einer der einundzwanzig Etappen als Spinner zu schmoren.

Denn die Narren müssen sich jedem Trumpf stellen und beweisen, dass ihre Absichten rein sind und ihr Spiel beseelt ist.

Die Karten lassen Dich hinaustreten aus der Zeit um so den Weg nicht aus dem Blick verlieren: Das Ziel ist es, zurück in die Welt zu gelangen und dort Deine eigene Geschichte zu beschreiten.

Das Spiel lässt Dich dabei immer wieder Distanz gewinnen zu den Etappen. Das lässt Dir Zeit, Deine Einstellungen richten zu können.

Auch bleibst Du beim Kartenlesen als externer Betrachter von Fanatismus und Vergeltungsdrang verschont. Von dieser hohen Position aus, kannst Du mögliche Entwicklungen auslegen, Risiken abschätzen und tatsächliche Gefahren voraussehen. Aber vergiss nicht; Dein Ziel ist es, Frieden zu stiften. »

Der Laufbursche hört aufmerksam zu und schaut ängstlich in die Augen der Seherin. Er nimmt auf ihre Andeutung die erste Karte auf. Es ist der Ecke Bube.

«Das bist du. Ein Suchender. Der Bube der Weisheit. Willst Du lernen, wie Du die Karten für Dein Leben anwenden kannst?»

Der Laufbursche nickt und sagt zögernd: «J-J-Ja.»

«Dann beginnt hier unsere Reise.

Es wird lang, hart und bestimmt wirst Du nie wieder so sein, wie Du jetzt bist. Aber vertrau mir. Es wird Dir helfen, Deinen Weg zu finden und der Welt etwas zurück zu geben.

Im Spiel werden wir in eine Zeit zurück reisen, in der die Felsenburg am Gorwetsch noch nicht zerfallen, als das alte Leuk noch nicht unter dem Erdrutsch begraben und die alte Ordnung noch nicht von den Legionärs Sandalen zertrampelt worden ist…»

Die Seherin reckt sich zum Laufburschen, packt seinen Kopf und küsst ihn auf die Stirn. Augenblicklich dreht sich der Raum um die Kristallkugel und sein Geist löst sich langsam vom Körper.

Sein Blick verliert sich im Nebel, der jetzt aufgewühlt aus der Kugel hinaus zu gleiten scheint, sich über den Boden verteilt und an den Wänden empor kriecht.

«Geh, tauche ein ins Spiel der Karten!»