PAD MORELLI’S «BERGEN» II

BUCH 1: Die Wesen der Welt

X: Die Fahrenden von Pfyn

Ein Spinner rennt durch den Wald. Er mag eigentlich seinem Atem kaum hinterher und friert schwitzend in der Kälte der Nacht, aber kaum will er endlich stehen bleiben, erschaudert er vor Angst und Grauen und rennt weiter.

Er ist aufgewühlt, ausser Atem und lässt sich kurz weinend zu Boden fallen. Er fleht die Engel an, ihm zu helfen, von diesen Dämonen los zu kommen, er preist seine Musen und seine Lieben, seine Verwandtschaft, seine Kollegen, die Sonne und den Mond, die Welt und alles was er vergessen haben mag…

Der Spinner rennt vor dem weg, was sich in seinen bösen Vorahnungen seit langem ankündigt und in dieser furchtbaren Nacht tatsächlich zugetragen hat.

Er ist bodenlos betrunken und schwebt in Todesangst. Er stolpert durch das Geäst, bis er plötzlich ein Feuer entdeckt, das durch die Bäume flackert.

Am Feuer sitzen bewaffnete Männer. Sie haben ihn entdeckt. Sie kommen auf ihn zu. Hinter ihm sind auch Figuren aufgetaucht. Er steht einfach da, wie angefroren, steif und zitternd. Er ist umzingelt.

Wie Waldwesen klettern die Gestalten aus der Dunkelheit, manche sogar über die Äste bis über seinen Kopf. Zwei von ihnen lassen sich lautlos an roten Seidentüchern auf beiden Seiten seines Gesichts kopfüber hinab und flüsterten gleichzeitig in seine Ohren:

«Wer bist du?»

Er regt sich nicht. Getarnte Kinder in Kostümen kriechen unter Verstecken hervor, manche mit Messern, andere mit Puppen.

Er bewegt sich immer noch nicht, aber lässt seine aufgerissenen Augen ängstlich umher blitzen.

Er versucht vergeblich seinen Atem abzuzwängen, woraufhin die Stimmen auf beiden Seiten seines Kopfes sagen:

«Lass es raus!»

Mit einer abrupten Bewegung fällt er in sich zusammen. Nach einem langen Atemzug krümmt er sich keuchend und zittern zu einem Klumpen zusammen. Am Milzbrand merkt er, dass es kein Traum sein kann, erschrickt ab dieser Einsicht und wirbelt herum… Auf die Ellenbögen gestützt bleibt er stumm liegen.

Wieder nähern sich die Gestalten lautlos seinen Ohren und wiederholen ihre Frage.

«Wer bist du?»

Er erhebt sich langsam und wundert sich darüber immer noch am Leben und immer noch nicht aufgewacht zu sein. Die Gewehre werden wieder auf ihn gerichtet.

«Nun, sag schon!» Sagt die ganze Gruppe zeitgleich und im selben Atemzug.

Endlich löst sich seine Zunge:

«Wer ich bin? Ich bin… Ich bin doch der Bote. Der Post… Bote. Ein Laufbursche… Ihr wisst schon… Was… Was ist mit Euch so…?»

Die Gestalten verschwinden von einem Augenblick zum Nächsten. Das Feuer zischt und erlischt, ohne dass man jemanden sieht, der es aus macht.

Der Spinner steht plötzlich alleine da, im dunklen Wald, am Rand der Lichtung. Er will wieder zu jammern anfangen, tritt wimmernd auf der Stelle, aber plötzlich geht in seinem Blickfeld ein Licht an.

Es ist eine Gas-Laterne, die die Tür eines Wohnwagens offenbart, sauber bepinselt und tüchtig erhalten. Er geht verwundert auf das Licht zu, und entdeckt ein Schild auf dem zu lesen ist: «Wahrsagen, 2.- Fr.»

Als er zögernd die Tür öffnet und über die Schwelle tritt, findet er sich in einem reich dekorierten Raum mit Wandmalereien wieder. Es brennen Kerzen, eine Spiegelkugel hängt am Gewölbe und erhellt mit reflektiertem Kerzenschein das geheimnisvolle Zimmer.

Es liegt ein angenehmer Duft in der Luft, der ihn an irgendetwas erinnert. Die Materialien sind faszinierend, alles ist sorgfältig gewoben, geschneidert und geschnitzt.

Er tritt hinein und wird von einer rauen, alten Stimme Willkommen geheissen. Er bedankt sich stotternd und spürt zum ersten Mal einen Impuls, den Wagen zu verlassen.

Dann sieht er sich plötzlich begeistert von der Schönheit der Frau, die vor ihm sitzt und ihre Hände über eine Kristallkugel kreisen lässt. Mit funkelnden Augen reisst er sich die Schiebermütze vom Kopf und starrt zur schönen Hellseherin.

Sie spricht: «Du spinnst, was?» Er ist fassungslos.

«Was, wer…?» Er weiss nicht was sagen.

«Antworte mir!» sagt sie lächelnd

«Ähm… Ich… Bin mir nicht sicher.»

«Schöne Antwort, mein Guter. Jetzt setz Dich doch, wärm Dich auf. Nimm einen Schluck des Zaubertranks.»

Er gehorcht. Sie steht auf und spricht weiter, während sie ein ihm ein Glas einschenkt.

«Ich kenne Dich. Du bist ein guter Junge.»

Der Spinner lacht kurz verwirrt und misstrauisch auf, aber setzt sich in mehreren Anläufen in den bequemen Winkel vor der Dame und sinkt erschöpft in die Kissen.

«Willst Du Deine Karten sehen?»

«M… Meine was?»

«Deine Karten.»

Sie hebt ein Spielkarten-Deck und breitet es vor ihm aus.

Die Bildkarten tragen schöne Kleider aus vergessenen Zeiten, er kann die Augen nicht davon ablassen. Die Ränder sind mit keltischen Mustern verziert und die Farben erinnern ihn an den Wald.

«Möchtest Du diese Karten wirklich verstehen und sie mit nach Hause nehmen, damit Du Dir Dein Schicksal zu jeder Zeit selber ausmalen kannst?»

Fragend schaut er in ihr freundliches Gesicht und nickt dann unsicher. «J… Ja. Ja, gerne…»

«Das mache ich nicht mit vielen. Aber ich habe Dich singen hören. Letzte Woche in der Bar. Es hat mir sehr gefallen. Deswegen will ich Dir etwas zurückgeben. Willst Du das?»

«J… Ja. Ja! Ich… danke.»

«Du magst die Zeichnungen, nicht war? Dies ist ein sehr seltenes Deck, dass der Legende nach vor 2000 Jahren in einer Höhle im Pfynwald für die Nachwelt hinterlegt worden ist.

Du siehst, jedes Deck erzählt die Geschichte eines Zeitalters. Jeder Künstler, der ein Deck gestaltet hat, erzählt eine Geschichte. Einerseits durch die Reise des Narren und andererseits im Ringen der vier Familien.»

Der Spinner sitzt wie angewurzelt da, aufrecht zusammengekauert, mit krampfhaft verschränkten Armen. Tropfen fallen von seinem Gesicht, zitternd verkrampft sich sein Gesicht zu einer wehklagenden Grimasse.

Er löst sich und steht auf.

«Es tu-tu-thuut mir sehr leid, gnädige Frau, aber ich m-m-muss Sie unterbrechen. Es is-s-st etwas schreckliches geschehen…»

Die Seherin blickt mit einem leicht gekränkten und doch verständnisvollen Blick zu ihm hinauf und erwidert:

«Es geschehen immer schreckliche Dinge. Und immer geht es darum, die Wahrheit zu erkennen, alles Lebende anzuerkennen und sich nicht vom Horror der Untaten abschrecken zu lassen, sondern voller Licht den Gräueln entgegen zu treten.

Setz Dich. Der Schrecken kann auf dich warten. Du musst dich nicht beeilen. Komm schon, setz Dich.»

Der Spinner wischt sich beschämt den Rotz und die Tränen aus dem Gesicht und betrachtet die Seherin. Obwohl er sich nicht ganz beruhigen lässt, setzt er sich wieder auf die Kissen, die in der Ecke aneinander gereiht seinen müden Körper aufnehmen, ihn stützen und schweben lassen, bis er schliesslich weg döst…