BUCH 1: Die Wesen der Welt
0: Die Barden
An jenem Abend, während dem Konzert der Grimmelshäuser, entscheiden sich die Waldgoofen, eine Punk-Band zu gründen. Sophia am Schlagzeug, Rebekka und Jonathan an elektrischen Gitarren und Karl am Bass. Sie proben nach den Konzerten in den Kellern stundenlang unter dem Namen «Les Serpents du Bitume» und freuen sich, zusammen auf Tour zu gehen.
Der fünfjährige Waldgoof und Erfinder Jonathan dichtet die Texte zusammen und der Rest grölt mit:
«Du Trubadix hentsch tot giprigglut
wahrschiinli d’Chilets chaunes
Schii siigä zwar kei Linggi aber
Das sii grächtä Lohn…
Die Gäugler wärdunt wäggitribbu
als Abschüüm vom Glas griärt
Wiär wünschä nu vil Gspass im Ladu
Wenn schich niemu meh priärt“
Les Serpents du Bitume wurden, leider in einer ungünstigen Nacht gegründet und vor ihrem ersten richtigen Auftritt verboten. Die Gründung fällt auf die Nacht der geköpften Blumen, an dem sich die Besatzer mit einer Nacht- und Nebelaktion sich an der ganzen Bandenszene des Waldes rächen.
Noch vor dem ersten Auftritt der Serpents de Bitume, der im Traube vorgesehen war, wird die Band also verboten. Das gibt ihnen von Anfang an eine steinharte Band-Biographie, die sogar ein Iggy Pop stark finden würde.
Aber ja… Ihre Band ist nie aufgetreten.
Ihre Instrumente werden von den Gross-Gallischen Besatzungstruppen konfisziert und auf ihre potentielle Anwendung als Waffe getestet.
Da den entfremdeten Republikanern aus den Gross-Städten Gross-Galliens die heiteren Praktiken der Greifstadt suspekt waren, liessen sie alle Einwohner des Bezirks als Barbaren in die neue, zentralisierte Verwaltung einordnen.
Somit ist ihr Status etwa der von Vieh. Alle Gefangenen werden gemustert und im gross-gallischen Heer verpflichtet.
Aus dem Schelmenturm der Greifsstadt schauen die Waldgoofen zu, wie die Besatzer ihre Gondel Dalaruine – Waldschloss abreissen und die Materialien für die Rüstungsindustrie wegtransportieren.
Die zerstörte Burg der Dalitianer wird versperrt und ein Bau einer Zollzentrale wird entworfen und vorbereitet.
Karl, Jonathan, Jakob, Christian, Lukas, Sohpia, Anna und Rebekka wissen, dass der Traum der Waldgoofen geplatzt ist, dass ihr Leben nur ein Schatten von dem werden kann, was sie sich eigentlich erträumt haben.
Die Gross-gallische Ordnungs-Kohorte zerstört gerade nicht nur die Träume der kleinen Kinderbande, sondern die der ganzen Gegend. Die Speicher werden geleert und alles mögliche wird von den Besatzern konfisziert.
Da alles nicht eingezogenen Bürgerinnen und Bürger des neugegründeten «Département du Simplon» von den Behörden der jungen Republik ohnehin schon kritisch beäugt wurden, wurden die Existenzen der meisten Menschen und Wesen der Region zerstört.
Einen Monat lang werden sie im Turm gehalten, täglich auf den Hof getrieben um dort zu exerzieren. Immer mehr werden sie getrennt eingesperrt, verhört, gemustert und eingeordnet in die neue Steuerverwaltung.
Es sieht so aus, als wäre die Zeit der Waldgoofen vorüber und sie würden sich nie wieder sehen…
Den meisten Eingesperrten, die ihre neuen Steuern nicht bezahlen können – also den meisten – wird 30 Jahre Dienst im Heer oder Tod durch den Strick geboten.
Viele wählen zweiteres, worauf man sie zum Exempel für das besonders aufmüpferische Viertel am Waldrand in Susten an die Bäume hängt. Seither nennen ihn die Wäldler den Galgenwald.
Karl, der beste Freund von Jonathan, wird in der Rüstungsindustrie verpflichtet. Er soll ankommendes Material aus den Hangars und Werften von Susten in die neuen die Lagerhallen der Republikaner schleppen und schichten.
Somit steht er im Dienste des gross-gallischen revolutionären Heers, das seine Heimat besetzt, seine Familie enteignet und seine Bande zerschlagen hat. Trotzdem wird er seinen Dienst vorbildhaft ausführen, denn alle Waldgoofen haben auf die harte gelernt; Wer Ungerechtigkeitigkeit mit Trotz begegnet wird die Ungerechtigkeit nicht besiegen.
Wer sich seine innere Freiheit durch geduldiges Abwarten behält, sich nicht durch Rache auf ewig mit den Tätern verbindet, sondern sie ignoriert und unbemerkt scheitern lässt an ihren Widersprüchen, der wird dem Wald am Ende mehr helfen können, als die kriegerischen Banden, die zwar das unmögliche geschafft haben, aber dann doch neben den Erbrochenen-Pfützen in den Gassen gemeuchelt wurden, weil sie die Ungerechtigkeit mit Waffengewalt vertreiben wollten.
Christian wird nach einem Fluchtversuch als Küchenjunge eingestellt und muss schon am nächsten Tag mit auf die Schlachtfelder im Westen ziehen. Auch er wird seinen Dienst vorbildhaft leisten und versucht das beste daraus zu machen.
Lukas hat das enorme Glück, auf dem Weg ins Infanterie-Regiment der Ost-Gallischen Söldner vom Orden abgefangen zu werden, um sich zum neutralen Sanitäter auszubilden zu lassen. Also wird er nach Latène ziehen, um eine lange Ausbildung anzutreten.
Die drei Kinder des Waldkönigs, Rebekka, Anna und Sophia, versetzen mit ihren Streichen die Wachen in Angst und Schrecken und geben sich in den Verhören als knallharte Verhandlungsgegner. Sie schaffen es, freigelassen und nach hause chauffiert zu werden.
Jakob kann sich aus dem Dienst herausreden und bekommt zwei Jahre Stubenarrest. Vom Schicksal anderer Insassen hat Jonathan keine Neuigkeiten bekommen.
Die Welt hat sich innerhalb einer Woche stark verändert. Die sonst so eleganten Ost-Gallier verlumpen im eigenen Dreck, eingesperrt im Schelmenturm. Viele Gebäude wurden in Gefechten beschädigt, niemand hatte Zeit, den Dreck der Festlichkeiten aufzuräumen, was sonst immer ein schöner Teil der Feiern war, an dem sich die Waldgoofen gerne beteiligten.
Also hängt der gärende Geruch von ausgeschütteten Getränken, Erbrochenem, Fäkalien, Verwesung in den Gassen der sonst so frisch duftenden Stadt. Zu dieser Tageszeit würde unter normalen Umständen ein grosses Frühstück serviert werden.
Statt dessen lässt man sie hungern.
Jonathan ist als letzter Waldgoof in der Zelle, zusammen mit dem Verrückten Ferdinant.
Brot wird ihnen durch die Stäbe an den schmutzigen Boden geworfen. Niemand rührt es an. Die meisten älteren Bandentypen in der Zelle dampfen fast vor ausdünstendem Alkohol, ein Husten scheint sich zu verbreiten.
Nach langem Prozess steht fest: Jonathan wird nicht in den Dienst eingezogen. Er wird als Narr eingestuft. Viele Menschen haben seine Merkwürdigkeit bezeugt. Gästen der Felsenburg gegenüber sei er unangenehm und fremd. Der Gelehrte am Hof der Felsenburg hat am meisten Aussagen hinterlassen.
Seine Mutter wird angewiesen, ihm drei Jahre Hausarrest zu geben und ihm Seelsorge zu verschreiben.
Zum ersten Mal wird ihm eine Flucht unmöglich gemacht. Sogar die Hofdame Esoula, die ihm in kniffligen Nächten öfters unauffällig irgendwo ein Türchen offen gelassen hat, wird vom Oberst der Wachen schärfst angefeindet: „Du Verführerin der Jugend solltest zurück in deine Wüste, mitsamt Deinem Frass und Deinen Gewürzen!“
Die Herzogin ist über diese Aussage jedoch viel erboster, als über die Verhaftung und die Diagnose ihres Sohnes als Narr und lässt ihren Oberst von der Burg schmeissen – was ihren Ruf bei den Leuten kritisch schwächt.
So beginnt seine erste tatsächliche und unumgehbare Gefangenschaft. Er wird in seinem Zimmer eingeschlossen, soll büffeln und seine Prüfungen nachholen. Seine Trotzigkeit und Aggressivität bringen die Wachen dazu, ihn zu betäuben und in kritischen Momenten zu fesseln.
In seinem Turm liest er anarchistische Bücher, die er in der Bibliothek seines Vater gefunden hat. Er dekonstruiert alle Machtverhältnisse in seinem Umfeld und beginnt mehrere Hungerstreiks und andere Aktionen, um dem Gelehrten das Leben schwer zu machen. Die Bewohner des Hofes halten zu ihm.
Die Kränkung des kleinen Erfinders sitzt allerdings tief. Nicht nur hat man sein Werk und sein Engagement missachtet und zerstört, man hat ihn von seiner Klicke getrennt und somit verhindert dass er sich wieder aufbauen kann.
Man hat ihm alles genommen und somit ist es für ihn unmöglich zu lieben, unmöglich zu lachen, unmöglich etwas gut zu finden…
Seine nächsten sind gehemmt von seinem Verhalten am Tisch. Entweder er schweigt und nervt sich ab den beiläufigen Fragen oder er redet und sie verstehen nicht, worauf er hinaus will, mit seinem begeisterten Geplapper, oder seinem verächtlichem Zischen.
Die Kränkung sitzt so tief, dass der Junge tatsächlich krank im Kopf wird; Seine Wahrnehmung verliert immerwährend an Sinn und so findet er Sinn im Wahn.
Er beginnt damit, in Zahlen und Symbolen Botschaften zu sehen. Er schreibt Zahlenkombinationen auf Gebäuden, Fahrzeugen, der Kleidung oder anderen Trägern gewisse Eigenschaften zu, trifft seine Entscheidungen nur mit Berücksichtigung irrationaler Umstände und treibt damit viele Menschen in die Verzweiflung – vor allem an den offiziellen Banketten und Empfängen seiner Mutter, an denen er die alte Welt der Aristokraten mit einigen unangenehmen Streitgesprächen mit hochangesehenen Gelehrten dermassen kränkt, dass er schliesslich dauerhaft in seinen Turm gesperrt wird.
Er korrigiert in seinem Geist Unebenheiten in Formen oder Geschichten, modelliert seine Umwelt nach seinem Geschmack und seiner Ästhetik. Er reimt Märchenhaftes mit dem Alltäglichen, sieht Rhythmen und Melodien im Spontanen und Zauber im Spiel.
Auch entwickelt und baut er weiterhin verblüffende Deckenburgen in seinem Zimmer, mit komplexen Seilzügen und ergonomischer Einrichtung.
Seine Freunde fänden das bestimmt spitze, aber seine Mutter nervt sich nur darüber, dass ihre Decken verschwinden und zerstört eines Abends ungewollt seine lange konzipierte Deckenburg, als sie sich ihre Lieblingsdecke zurück holt, die er als Sonnendeck zu aller-oberst eingenäht hat.
Die Herzogin hällt zu ihrem fünfjährigen Sohn und will ihn eigentlich aufmuntern, nur sind seine Wut-Ausbrüche und seine bedrückte Stimmung oft nur Auslöser für brutale Wortgefechte, bei denen sie sich gegenseitig zu tiefst verletzen.
Es ist den meisten klar, dass er keinen Platz finden wird, zwischen den Ellenbogen der Gesellschaft.
Als er seine Strafe abgesessen hat und alle Prüfungen bestanden sind, stürzt er sich während der Feier seines akademischen Erfolges bei der ersten Gelegenheit durch die Scheibe des Esssaales, um an vorbereiteten, geknüpften Fahnen in die Schlucht zu klettern.
Alle denken, er hätte sich beim Sturz das Leben genommen, das findet er gar nicht so schlecht. Er rettet sich mit seinem alten Gleiter, seinem vorbereiteten Rucksack und im Wrack der Diplomierten wieder einmal quer über das ganze Tal bis zum Guttner Hügel.
So wird aus ihm – nach den drei Jahren abgesessenen Stubenarrests – schon im zarten Alter von acht Jahren, endgültig ein Ausreisser, ein Wanderer, ein Streuner, ein Vagabund.
Bei der Bruchlandung wird sein schönes Flugobjekt zwar zerstört und sein Anzug beschmutzt, aber er erlangt bei der schmerzhaften Landung nach drei Jahren seine Freiheit zurück.
In der selben Nacht schleicht er sich zum Werft in Susten. Mit einem Eulenlaut hofft er, Karl Signale senden zu können. Er versucht verschiedene ihrer Codes.
Als keine Antwort kommt, traut sich der Kleine Jonathan unter dem Zaun hindurch zu klettern und seinen besten Freund zu suchen. Drei Mal wird er beinahe von den Wachen erwischt. Dann entdeckt er ihn.
Karl steht gerade da und wird gerade von einem Wachmann geprüft. Er sieht nicht, dass weit über ihm ein Teil des Materials durch die Gestelle zu brechen droht. Das Gestell wurde von einem Wachmann beschädigt, der dort vor einigen Tagen hochgeklettert war um während seinem Nachtdienst die Dienste eines Freudenmädchens aus dem Dorf in Anspruch zu nehmen.
Krachend brechen die obersten Etagen der Lagerreihe, die Pakete zerbersten und die Gusseisen teile schellen in alle Richtungen.
Bevor es Karl und den Wachmann erwischen kann, hastet Jonathan unter dem Schwall aus Rüstungsware hindurch und zerrt Karl mit einer Rettung in letztem Moment ausser Fallweite der Eisenteile.
Der Wachmann erliegt dem schrecklichen Unfall, aber die beiden rennen unbeirrt Richtung Wald. Es beginnt eine Reihe von Abenteuern, die die beiden Barden kreuz und quer durch die Gegend zerren und sie auf der Suche nach neuen Aufgaben mit neuen Karten vertraut macht.
In den Wäldern und auf den Strassen des Tals erlernen sie, allen Wesen wahre Freundschaft entgegen zu bringen. Sie merken, dass ihre Einstellung gegenüber dem Leben grossen Einfluss auf ihr Wohlbefinden haben kann.
So begegnen sie allem Leben mit Güte und Respekt. Beide finden kleine Liebschaften an den Seen und Flüssen des Tals, lernen viele Leute kennen und machen sich Freunde.
Immer wieder hören sie in merkwürdigen Ecken Geschichten über die Region, über die internationale Lage und viel sogar über ihre Familien.
In den Gossen können sie sich ein alternatives Bild der Geschichte spinnen, das nicht auf der Propaganda der Republikaner oder der Aristokraten, sondern auf den Erzählungen der Verstossenen basiert.
Jonathan erkennt den Wert von Solidarität gegenüber den Schwachen, der Loyalität gegenüber Freunden und der Moral im Liebesleben. Er unterstützt sein Umfeld von gefallenen Studenten und Drogensüchtigen Pennern, wo er nur kann. In einem verlassenen Wagenplatz nistet sich die Gruppe ein, um sich zwischen den Fronten der Zeit gegenseitig zu schützen und zu pflegen, egal wie sie von der Gesellschaft eingestuft werden.
Nach Prinzip des Grünen Kreuzes, bei denen er unter falschem Namen eine Ausbildung zum Hilfs-Sanitäter macht, hilft das Duo nicht nur ihren eigenen Leidensgenossen, sondern allen, ohne ihrer Identität, ihrer Meinung oder ihrer Situation Beachtung zu schenken – wenn sie es denn brauchen und wollen.
Sie begleiten alte, Betrunkene nach hause, warten mit Verletzten auf den Krankenwagen und gehen mit Hunden gehbehinderter Menschen auf Spaziergänge.
So wird aus den beiden in der Stadt ein Duo begabter Sanitäter, die Abseits aller Institutionen und etablierten Machtstrukturen agieren und sich im Rhonetal eine stabile Basis an freundschaftlichen Kontakten aufbauen, die sie mit immer ausgefalleneren Gefährten befahren, oder zu Pony bereiten.
Sie werden auf ihren Reisen stets von einer grauen Taube begleitet, die sie erst spät in ihrem Leben als ihr Publikum entdecken, zusammen mit den Hunden und Pferden, den Hühnern und Rindern, den Vögeln und Nagern, Fliegen und den Fledermäusen, den Panzerkäfern und Wespen, den Ameisen und den Würmern, den Fröschen und Eichhörnchen, den Schlangen und Spinnen, den Füchsen und Schweinen, den Mardern und Igeln, den Katzen und Hirschen beobachten sie die Welt im Tal, die Welt der Menschen und die Welt der Tiere und folgen den Hilfeschreien um Hilfe zu leisten.
Der Laufbursche schaut fasziniert in die Vision dieser Geschichte und hebt schliesslich die Augen, in denen sich Tränen rühren und flüstert:
«Danke. Das war schön. Ich werde jetzt gehen und mein Leben in Ordnung bringen.»
«Tu was Du willst, aber die Geschichte hat erst begonnen. Wenn Du das Märchen des Barden kennen lernst, wirst Du die Welt kennen lernen und zusammen mit Jonathan von Felsenburg die Aufgabe verstehen, die einem solch verlorenen Menschen auferlegt wird.»
«Nein, danke, ich sollte wirklich nach Hause…»
Der Laufbursche steht auf und verlässt den Wagen der Seherin. Er stolpert über den Wagenplatz und fürchtet das schlimmste für seine Freunde, die er in der Bar zurückgelassen hat.
Die Leiche des Hirten wird am nächsten Morgen gefunden.
Die Ermittlungen der Polizei werden von den Befragten auf die Fahrenden gelenkt.
«Das sind nichts als Messerstecher. Dieses Lumpenpack kommt hierher, lebt von unserer Arbeit, klaut und schummelt mit faulen Tricks, verführt unsere Frauen und Töchter mit ihrem Geschwätz und tötet sogar unsere Freunde, Herr Wachmann.»
Sagt der Müllers Sohn am nächsten Morgen und tritt den Kadaver des Hirten auffällig grob.
Der Polizist macht sich Notizen und lässt die Leiche wegtragen.