PAD MORELLI’S «BERGEN» VII

Buch 1: Die Wesen der Welt

WG: Die Waldgoofen

Der Laufbursche hat so viel Zeit im Leib der Taube gelebt, dass ihm sein eigentliches Leben länger je mehr fremd und kalt erscheint.

Er hat die Karte der nachgestellten Welt vollends erkundet und alle Momente der frühen Kindheit von Jonathan zeitlich abgedeckt.

An einem besonders schönen Abend, wird Jonathan von seiner Mutter und ihren Hofdamen zu ihrem Nachbarn geschleppt. Es ist der König von Pfyn, einer der wohlhabendsten Grundbesitzer der Region. Der Junge hat sich widerwillig kämmen und ankleiden lassen und sitzt mit tot-ernstem Blick zwischen den Erwachsenen am grossen Bankett.

Das Gesicht mit dem kleinen Schmollmund wandelt sich, als drei Mädchen zu ihm stossen und klein-Kind dümmlich mit ihm spielen wollen. Begeistert verlässt er das langweilige Gespräch der Erwachsenen und wird von den Mädchen zum naheliegenden Wald gezerrt. Die Mädchen klettern auf die starken Äste einer grossen Eiche, wo die drei Schwestern ein sogenanntes «Klubhaus» errichtet haben.

Dieser Moment, in dem er sich in Gesellschaft mit anderen Menschen zum ersten Mal akzeptiert und aufgenommen fühlt, wird ihm sein Leben lang die Kraft geben, weiter zu machen.

Am selben Abend, an dem eine schicksalhafte Hochstimmung in der Luft liegt, gesellt sich ein gurrendes Tauben Weibchen zum Laufburschen, mit dem er an Nachmittag schon geturtelt hat.

Das Tauben-Paar fliegt um das Clubhaus und baut sich mit kleinen Ästen ein schönes Nest in der Baumkrone der grossen Eiche.

Die Kinder schlafen alle im Clubhaus und Sophia, die vor allen anderen wach ist, macht sich daran, die vom Vater gebastelten Vogelhäuschen mit Futter zu füllen.

Während Jonathan und die beiden anderen Schwestern noch schlafen schnallt sich Sophia eine Erntetasche um und beginnt, den Hof zu durchkämmen und allerlei im Wind gefallene Köstlichkeiten zu verstauen.

In der Küche holt sie die Wegwürfe der Köchin und bringt sie den Stalltieren, füllt die Tränken, melkt die Kühe auf der Weide und Ziegen im Stall, bringt den Pferden und Eseln auf der Koppel Heu und Äpfel aus dem Garten und die Knochen den Hunden bei der Hütte am Graben.

Dann wäscht sie sich am Brunnen, zieht ein neues Kleid an und wäscht das alte.

Die Kräuterbündel verreibt sie in ihrer steinernen schale, mischt das öl mit der Seife und putzt sich mit zerriebenen Minzenblättern die Zähne.

Der Laufbursche schaut ihr jeden Tag dabei zu. Da Jonathan sich bei jeder Gelegenheit davon stiehlt und zum Waldschloss wandert, kann der Laufbursche seine Arbeit als Publikum vom warmen Nest aus erledigen.

Sein Geist kann jederzeit frei in den Wagen der Seherin und in seinen eigenen Körper zurückkehren. Das tut er auch, um gesammelte Informationen in Skizzen und Notizen zu verwahren.

Die Seherin ist glücklich damit, gibt ihm viele Tipps, sie liest seine Beschreibungen und kritisiert seinen Stil, womit er wiederum auch sehr glücklich ist.

Er kann in jeden Moment zurückzukehren und alle Winkel der Geschichte genaustens analysieren und soll versuchen, diese in Worte zu fassen, in eine Geschichte zu packen, die das Abenteuer als solches spannend aufleben lässt… Oft spult er blitzschnell zu einem geborgenen Moment vor dem Einschlafen, macht lange Pausen, irrt auf dem Wagenplatz umher oder im nahegelegenen Wald.

Er lokalisiert in etwa das alte Leuk, das der Legende nach vor langer Zeit unter einem Erdrutsch begraben wurde. Meistens spielt er den ganzen Nachmittag und wandert in der Nacht, dick eingepackt und mit einer Teekanne im Griff in der Region umher, immer Ausschau haltend nach seinem Chef oder der Bande des Müllers Sohn.

Durch das Vor- und Zurückspulen in der geistigen Welt, altert sein fleischliches Wesen nur gering. Nach einem besonders langen Spaziergang entscheidet er sich, die Seherin um noch eine Sitzung zu bitten.

«Wir können gerne die Nacht durchspielen, wenn Du willst. Und wenn Du schlafen willst, legst Du Dich einfach hin.»

«Danke, gnädige Frau.»

Er verfolgt nicht mehr nur den Werdegang des Jungen, sondern interessiert sich auch sehr für das Leben seiner Freunde. Es hat sich ein bunter Haufen sehr lebendiger Kinder zusammen getan. Jonathan leidet etwas darunter, nicht mehr der einzige Junge zu sein, aber lernt die ihm neuen Freunde sehr zu schätzen.

Alle schwören sich ewige Treue und offenes Tor in ihren Baumhütten. Denn vor allem das verbindet die Kinder und darauf sind sie am meisten stolz; ihre Baumhütten.

Sie lernen früh, an einem Tischfussball-Tisch Wunder zu vollbringen, ziehen gemeinsam durch Wald und Ländereien, stellen ihre Zelte überall auf, wo sie sich sicher fühlen und verschmelzen zu einer liebevollen Gruppe kleiner Menschen, die gemeinsam auf Abenteuer gehen.

Denn es zieht die Kleinen immer stärker hinaus in die Welt. Sie begegnen den Kindern vom Hof und den Nachbarsdörfern meist friedlich und offen und ziehen in immer grösseren Gruppen durch den Wald.

Karl von Greifsstadt wird bei einem gefährlichen Abenteuer im Wald, nach anfänglichem Misstrauen der beste Freund von Jonathan und die beiden werden Zeit ihres Lebens treue Weggefährten bleiben.

Auch Karl ist ein begeisterter Bastler. Sie haben vor, zusammen eines Tages eine Bude zu eröffnen, Wägen zu bauen und damit um die Welt zu fahren.

Der Laufbursche verabschiedet sich von seiner Tauben Familie und folgt der Gruppe Kinder in den Wald.

Um das Material für ihre erbastelten Träume kaufen zu können, besuchen sie meistens den Markt der Fahrenden. Tief im Wald verkaufen sie alte Wagenstücke, gefundenes und gestohlenes, nützliches und lustiges, vergessenes, verwunschenes – und magisches.

Dort fühlen sich die Kinder wohl. Zwischen dem Schrottplatz des alten Meini und dem Wagenplatz mit den Ständen findet man alles, was das Bastler Herz begehrt.

Sie machen sich mit ihren Erfindungen schnell viele Freunde unter den Wäldlern, vor allem, weil sie die kleinen und grossen Bauwerke gern freiwillig verschenken und gerne mit anpacken, wenn ein kaputtes Fahrzeug oder eine schwere Ladung angeschafft wird.

Sie engagieren sich freiwillig um Reparatur Workshops mit anderen Kindern und den ausgestossenen Narren zu machen. Sie bauen mobile Badezimmer für die Obdachlosen, mit Hängematten und Feuerschalen.

Man ist ihnen dankbar. Diese Dankbarkeit und der ungewöhnliche Respekt, den die Alten und die Fahrenden den Waldgoofen entgegenbringen, ist der Schutz, der diese Zeit im Wald für sie als goldene Zeit in Erinnerung bleiben lässt. Dort im Wald konnten die Kleinen sich verstecken um vor jeglichen Unliebsamkeiten sicher zu sein.

So werden die Kleinen früh Teil der Bandenszene des Waldes. Ihre eigene Bande, die Waldgoofen, ist zwar klein und ungefährlich, aber beliebt, vor allem wegen ihrem Erfindertum, aber auch, weil die Mädchen und Jungs der Waldgoofen ausgesprochen ehrlich, gerecht und bescheiden sind.

Sie halten sich meistens im Hintergrund auf, auf den Wagenplätzen, in den Gassen oder im Kellersystem der Greifstadt, sind schnell verschwunden und äusserst diskret. Für viele bleiben sie unsichtbar.

Aber sie können auch laut sein, wenn sie sich sicher fühlen. In den rot-weissen Umzügen der Singenden FC Sitten Fangruppierungen machen sich die Waldgoofen regelmässig auf den Weg zu den Burghügeln, wo sie singend und trommelnd vom Gradin Nord das Team anfeuern.

Auch in den regelmässigen Tischfussball Tournieren im ganzen Tal sind die Waldgoofen gefürchtete Gegner. Die meiste Zeit verbringen sie aber in ihren Hütten und Zelten.

Drei Baumhütten werden von den Waldgoffen unterhalten:

Eine auf dem grossen Baum auf dem Stadtplatz von Greifsstadt, mit Karls Radiostation, einer offenen Platten- und Büchersammlung, eine andere im Wald oberhalb der Felsenburg, mit Brockenhaus und Reparatur Werkstatt, und eine weitere im Waldschloss Leuk, mit Tisch-Fussball-Tisch, Unterkünften und Festbühne.

Bei der Hütte der Guttner geniesst Jonathan Landeerlaubnis, wenn er durch das Tal gleitet.

Ausserdem treiben sie sich viel in der Burgruine der Dalitaner herum. Überall finden sie ein wunderbares Gleichgewicht zwischen Arbeit und Plausch, um so viele ihrer Visionen und Träume in die Wirklichkeit zu basteln, wie nur möglich.

Die Bande hat nie Teil genommen an den Pfyngefechten, bei denen sich die Waldkinder eine Reihe übler Zusammenstösse mit den gross-gallischen Truppen geliefert haben.

Die Waldgoofen widmen ihre Aufmerksamkeit der Entwicklung von Maschinen und Werkzeugen, bauen, reparieren und basteln sich ihre Umgebung zusammen und wollen niemandem schaden.

Diese Tätigkeit lässt ihnen wenig Zeit, um ihre Erziehungen zu verfolgen. Deswegen reissen sie systematisch aus, leben von Konzertgagen und Reparationen und agieren eigentlich immer aus dem Untergrund.

Zwischen den vier versteckten Baumhütten haben die Waldgoofen ein System aus Gleitern und Gondeln installiert, das jedem Mitglied ermöglicht, aus einem allfälligen Hausarrest in einen ihrer Unterschlüpfe zu flüchten.

Manche Teile des Weges sind mit einem dicken Kabel verbunden, an dem man heruntersurren kann, andere Abschnitte Steil und versteckt.

Von der Felsenburg traut sich Jonathan bald, mit einem eigens konstruierten Gleiter durch das Tal zu segeln, wobei seine Flugsicherheit nie ganz gewährleistet ist. Auch verläuft ein steiler Fussweg hinunter zur zum Waldschloss, das am Fusse des Gorwetschs liegt.

Allerdings hat ihm sein Zwergenlehrer früh gezeigt, wie man sich beim Klettern richtig absichert und so kommt Jonathan meistens mit wenigen Schrammen bei seinen Freunden an.

Vom „Skalp des Gorwetsch“, wie sie zu sagen pflegen, hält er also Kurs auf den äussersten Hügel der Sonnenberge. Der Laufbursche begleitet ihn, meistens fliegen sie bei Nacht. Mitsamt Gepäck trägt seine Tuchkonstruktion ihn über das Tal zur Südrampe.

Was er schon besser versteht, ist wie er den Flug verlangsamen und allfälligen Hindernissen aus weichen kann. Die Landung ist dank den ausfahrbaren Rädern nicht allzu schwer, aber auch hier sind ihm ein paar Unfälle passiert.

Er zielt auf eine weite Grasfläche und setzt zur Landung an. Diesmal funktioniert es einwandfrei.

Er versteckt den Gleiter und gelangt mit bescheidenem Gepäck durch den versteckten Tunnel zur Baumhütte des später berühmten Malers Jakob von Sonnenberg. Er und die „Balgen des Hügels“ sind Verbündete der Waldgoofen.

Von dort führt ein Schleichweg an der Festung von Brentjong vorbei, dann über die oberen Felder hinunter zur Greifstadt. Er klettert über die Bäume an den Wachen vorbei, an einer tiefen Stelle der Mauer und verständigt Karl mit einem nachgeahmtem Vogelgezwitscher über seine Ankunft.

Er streift durch die Gassen bis zum alten Baum auf dem Stadtplatz, wo Karl ihm verschlafen die Tür öffnet. Er vergräbt sich an seinem Schlafplatz und die Taube setzt sich in den Fensterrahmen. Vorerst Ruhe.

Am nächsten Morgen, bevor das Dorf erwacht, wärmt er Wasser für Tee und teilt einen Apfel mit Karl und gemeinsam durchqueren sie die Obstgartenhänge und Ställe im Westen der Stadt und treten in Morgenmattigkeit bis zum Trampelpfad zur Dalaschlucht.

Weiter geht es durch Gestrüpp und Unterholz bis an den Rand der Schlucht. An einem Kabel verschliessen sie ihre Karabiner und surren in sicherem Abstand über die gigantischen Klippen in den Wald neben der Ruine der alten Burg der Dalitaner.

Dort liegt die grösste Installation der Waldgoofen. Zusammen mit den anderen Banden ist es ihnen möglich gewesen, zwischen der Ruine und dem Waldschloss ganze fünfzehn Türme aufzustellen.

Dank der Hilfe vieler Dorfbewohner und Wäldler kann jetzt eine grosse Gondel, aus zusammengebastelten Wagenteilen über die Rhone und über den Wald gleiten, bis zum alten Leuk, wo der König selbst ihnen eine Landestation zur Verfügung stellt.

Dort, an der Endstation von Jonathans Fluchtweg wohnen die restlichen Waldgoofen: die drei Töchter des Königs, Sophia, Anna und Rebekka von Waldschloss Lukas von Löwenberg und Christian von Wasserfall.

Auch in den Bäumen ausserhalb des Waldschlosses haben die Waldgoofen eine Baumhütte gebaut. Hierfür mit Unterstützung der Fahrenden, den Waldfratzen und Jonathans Werklehrer.

Die Eröffnung des Baumhauses war im Wald eine Sensation. Drei Tage lang waren alle Banden und alle Nachbarn eingeladen, mit ihren Zelten am Fusse des Baumes regionale Schwergewichte der Rock und Punkszene aus dem ganzen Tal zu hören.

Mit dabei waren Elektrik Tom and the Magnetic Freaks, Little Wings, Bernie Constantin, Jaggy Lagger, Punkrott, Granny Smith, Lineli Concept, The Meseeks, The Rudifutschers

Juni und die SUB-Gang haben auf der anderen Seite des Baumes einen Skate-Park aufgebaut und bieten den hunderten von Zuschauern eine Nerven kitzelnde Show.

Ein Jahrmarkt hat sich dazu gesellt und alle waren begeistert vom neuen Lokal der Waldgoofen:

Auf mehreren Stöcken können bis zu fünfzig Gäste beherbergt werden. Auf den Dachterrassen mit Schattensegeln schenkten sie Fässerweise Gratissuff, es gibt Kühlsysteme für Limonade, Billard und Tischfussball, einen Jam-Raum und einen Aussichtsturm, mit dem der ganze Pfynwald überblickt werden kann.

Die Waldgoofen stechen mit ihrer Gondel und ihren Baumhütten hervor als engagierte und erfinderische Kinderbande. Das bringt ihnen bei neuen Ideen viel Unterstützung ein und bei den vielen Festen auch ein grosses Publikum.

Aber die guten Zeiten wären selten lange. Andere Banden sind stärker am Widerstand und am Krieg interessiert. Vor allem Olaf, der Baumbengel, hat einen schrecklichen Ruf.

Gerüchte von Schändungen und Morden haben im Dorf die Runde gemacht. Er und die furchtlosen Waldfratzen überfallen immer häufiger Kutschen und Wanderer. Und ihre Rivalen, die Schädelritter, jagen unverheiratete Frauen und verbrennen sie als Hexen.

Olaf der Baumbengel nutzt den Aufruhr, der durch den angekündigten Einzug von Söldnern durch die Besatzer ausgelöst wurde und organisiert mit seinen Verwandten aus der Rittermark einen Angriff gegen die Besatzer.

Die Pfynbanden gehen in die Geschichte ein. Sie schaffen es tatsächlich, sämtliche Truppen und feindliche Banden aus dem Wald zu scheuchen und sie kaltblütig in den Feldern nieder zu schiessen, mit Wurfäxten, Pfeilen und Messern.

Vor allem die Schädelreiter wurden bis auf wenige überlebende von der Sippe des Baumbengels getötet.

Sie treiben die gross-gallischen Besatzungstruppen aus dem Westtor des Tals und versiegeln es. Dann befreien sie alle Gefangenen zwischen dem Felsentor und dem Gletscher.

Zu den Feierlichkeiten öffnet die Baumhütte von Karl die Türen, mitten in der Greifsstadt. Auch wenn sie den Baumbengeln nicht in die Quere kommen wollen, können sie wieder eine Handvoll Bands organisieren und freuen auf Kunst, Musik, Poesie, die von ihnen organisierte Lichtspiel-Abende und Tischfussball-Tourniere, Erfinder-Ateliers und Werkstätten.

Die Waldgoofen sind beflügelt, niemand ahnt, was kommen wird. Jonathan, Karl, Sophia und die anderen freuen sich auf ihre Teilnahme am jährlichen Fasnachtsumzug, wo sie hoffen den Preis zum schicksten Wagen zu erhalten.

Die Festlichkeiten klingen durch das Tal, die Tauben legen sich schlafen, die Waldgoofen haben nicht vor sich demnächst hinzulegen und werden immer gerne an diesen Abend zurück denken.