PAD MORELLI’S «BERGEN» VI

Buch 1: Die Wesen der Welt

FB: Die Felsenburg

Schnurstracks bahnt sich die schwangere Herzogin gebückt einen Weg zu einem stehenden Wagen, klettert hinein und weist den Fahrer an, unverzüglich zur Felsenburg zu fahren und unter keinen Umständen anzuhalten.

Ihr hinterher steigt ihre treue Begleiterin und Hofdame der Felsenburg Esoula aus Mauretanien, die mit frischem Wasser und Schnaps der Geburt beiwohnt.

Gemächlich kommt der Karren in Bewegung und bahnt sich einen Weg durch die aufgescheuchten Leute. Bald erreicht er den Waldrand und rattert gemächlich aus dem Rummel.

Zusammen mit den Vögeln und Waldtieren verfolgt der Laufbursche den Karren, schwebt darüber und hört die angestrengten Laute der Herzogin, die von ihrer Begleiterin immer wieder besänftigt werden.

Als der Karren schon beinahe das Fanöischi erreicht hat und eine ihm unbekannte Strasse hoch zu kurven beginnt, erklingt ein schrilles Plärren.

«Das sind die ersten Schreie des frischgeborenen Jonathan. Mit seiner Geburt beginnt unser Märchen. Sein Geburtstag fällt auf den ersten Tag der gross-gallischen der Besatzung.

Er ist der nullte Trumpf in diesem Spiel, die Null, der Narr, der Taugenichts, der Tunichtgut, der aufbrechende Abenteurer. Sein Schicksal ist es, die einundzwanzig Etappen Trümpfe zu überzeugen, um am Ende seiner Reise diese Welt zu retten.»

Der einsame Wagen rumpelt die steinige Strasse hinauf zum Gorwetsch, wo zur grossen Verwunderung des Laufburschen, ein Komplex aus Häusern, Türmen und Mauern ragt, der über den steilen Grad des Berges gebaut worden ist.

«Dies ist die Felsenburg. In Deiner Zeit ist sie längst zerfallen. Sie wurde einst durch einen Bund aus Zwergen und Menschen erbaut, darunter die Vorfahren von Jonathan…

Seit dem Burgerzeitalter wird die befestigte Siedlung von der Familie seiner Mutter verwaltet. Der erste Herzog der Felsenburg ist unter den vielen Drachentötern der Region.

Mit dem Schatz, den die Zwerge und Menschen auf präziseste Art unter allen Beteiligten verteilt haben, konnte die Burg zu einer Oase des guten Lebens werden. Der weite Innenhof bietet Flächen zum Anbau, umringt von befestigten Häusern, zwischen vier Türmen, wo etwa zweihundert Menschen unterkommen können.

Ein Viadukt bringt Quellwasser ins Röhrensystem der Burg, wo es gleichmässig in die Speicher der Familien fliesst und auf den öffentlichen Plätzen frei zugänglich gemacht wird. Auch verfügt die Burg über ein Dampfbad.

In den Häusern wird das Wasser an der Sonne gewärmt zum Baden, und mit Feuer geheizt zum Trinken.

Die Felsenburg geniesst international einen sehr edlen Ruf; ein Geheimtipp unter gefragten und berühmten Menschen. Eintritt ist allen frei, so fern sie keinen Schaden anrichten.

Alle Kranken oder Verfolgten, die den weiten Weg auf sich nehmen, werden in den öffentlichen Lazaretten von best ausgebildeten Heilern und Gelehrten betreut, auch Pilgernde, Reisende, Bettlende, Handlende, Wandernde und Handwerkende finden Unterkunft, rechtliche Vertretung und leibliche Verpflegung.

Den Gästen werden Pensionen gegeben und die öffentlichen Bäder zu Verfügung gestellt. Wenn sie sich am Unterhalt der Burg beteiligen, können sie auf unbestimmte Zeit in der Burg wohnen.

Falls kein Platz mehr am Hof ist, gibt es in den unterirdischen Hallen der Zwerge Notschlafstellen, Volkssuppen und Brunnen. Allerdings wird bei Fehlverhalten streng durchgegriffen.

Die Herrschaft der Herzoginnen und Herzogen von Felsenburg gilt allgemein als gerecht und vorbildhaft. Ihre sanfte Macht wird reflektiert und zurückhaltend eingesetzt.

Auch die Finanzen der Burg werden vernünftig behandelt, nicht geizig, aber kalt, sinnvoll und mit Bedacht ausgegeben. Vieles davon wird regelmässig unter allen Burgern verteilt, was die Sanierung der Gebäude bisher nachhaltig gesichert hat.

Ausserdem hat ihr Ruf zur Ansiedlung einer Sippe Zwerge geführt, die im Ausbau und Kellerung der Burg massgeblich beteiligt sind.»

Kaum hat die Herzogin die Tore der Burg durchquert, werden Verteidigungsmassnahmen unternommen.

Das Heer der Revolutionären nimmt innert einer halben Woche die Schlüsselpunkte des Tals ein. Es gibt kaum Gegenwehr.

Auch die Seduner ergeben sich kampflos, Diplomaten des Ordens sorgen dafür, dass die Übergabe friedlich von Statten geht. Und so marschieren die Soldaten des Gross-Gallischen Heeres schon drei Tage nach Überquerung der Grenzen auf die Felsenburg.

Die Herzogin befielt den Wachen vom Krankenbett aus die Burg sturmsicher zu machen und allen Bewohnenden, sich zu verbarrikadieren. Die Zwerge werden hinter unsichtbaren Türen versteckt und einige der Tiere in krankmachenden Kostümen gekleidet und davor gestellt, um allenfalls die Suchtrupps weg zu scheuchen.

Für den Fall, dass Katapulte anrollen würden, wurden Wachen auf den Klippen über der Strasse positioniert, die im Falle drohenden Beschusses den Weg und die Spitze des Heers mit einer Land- und Steinlawine begraben sollen.

Und so verbringt Jonathan seine ersten Tage in der Welt in einer verbarrikadierten Burg.

Eines Morgens, als sich die frischgebackene Mutter aus ihren Gemächern wagt, nimmt die Herzogin ihr frischgeborenes Kind in Tücher und Blätter gewickelt auf den Arm und fordert den Oberbefehlshaber der Revolutionäre auf, sich ihr alleine zu stellen um zu verhandeln.

Die Anweisungen des Ordens, auf einen Gesandten zu warten, werden von der Herzogin ignoriert.

Seit dem ihr verstorbener Ehemann nach Ablauf seiner offiziellen Dienstpflicht anstatt an ihren Hof zurück kehren zu können, aus Personalmangel in die Leibgarde des Gallsichen Königs eingezogen wurde, zweifelt die Herzogin immer mehr an der einzigen Institution Ost-Galliens.

Ein Gelehrter an ihrem Hof bestärkt ihre Skepsis. Und seitdem Philippe von Drachenberg, also Jonathans Vater, im Dienste des Ordens der Druiden und Barden gefallen ist, geht sie so weit, den Orden zu verfluchen.

Ausserdem greift sie in letzter Zeit hart gegen Lasterhaftigkeit durch und isoliert die Burg durch unvorhersehbares und sprunghaftes Verhalten weitgehend von ihren Nachbarn.

Nach einem kurzen, aber heftigen Wortwechsel werden die Soldaten des revolutionären Heeres mit Verpflegung aus der Burg versorgt und die Belagerung für abgebrochen erklärt. Sogar drückte der Oberbefehlshaber über den Verlust ihres Ehemannes sein Bedauern aus, was von der aufgebrachten Herzogin kalt zur Kenntnis genommen wird.

So endet die Belagerung der Felsenburg und das Tal wird ins neue Regime von Bonapartix eingegliedert. Steuern und Söldner werden nun vom Heer eingezogen, die Ost-Gallische Unabhängigkeit ist vorüber.

Die Verfolgung von Zwergen und Kobolden nimmt ihren Lauf, wobei sich die Bevölkerung doch stark für den Schutz der Wesen einsetzt und sich den Disziplinarstrafen aussetzt.

Im obersten Turm der Felsenburg, im Dachstock des Westturms, soll der Junge Jonathan als Sohn der verwitweten Herrscherin aufwachsen. Nur lässt sich der kleine einfach nicht im Turm halten…

Im allgemeinen befolgt er keine einzige Anweisung, die man ihm gibt. Systematisch passiert, was die Aufseher vermeiden wollen und der Kleine findet sich früh in Situationen, in denen nur er sein Leben noch retten kann.

Aber der Junge hat immer Schwein. Oder «gute Schutzengel», wie es seine Oma ausdrückt. Jedenfalls hat er, bevor er laufen kann, schon damit begonnen, eigenständig die Region zu erkunden.

Sein Blick richtet sich früh ins Tal, in die Dala- und Feschelschlucht, auf einen grossen Teil der Rhone und in der Ferne die Burghügel der Seduner. Und er kann es kaum erwarten, es näher kennen zu lernen.

Mit nur einem Jahr gelingt dem kleinen bereits der erste Ausbruch aus der Felsenburg. Der Strampler hat sich auf einen Marktwagen fallen lassen und ist zwischen dem frischen Gemüse bis an den Hafen gekarrt worden.

Es dauert Tage, bis die Wachen der Herzogin den kleinen Ausreisser aufspüren können. Die Aufregung bebt durch die ganze Region. Eine Bauernfamilie findet ihn schlafend unter den Nussbäumen und seine Rückkehr rührt viele zu Tränen.

Seine ersten Jahre vergehen schnell, der Laufbursche sieht durch die Fenster der Burg, wie Jonathan gehalten wird von Verwandten, wie er die ersten Schritte macht und die ersten Worte spricht und begleitet ihn, wie er als verträumtes Kind die lange Strasse hinunter wandert, im Mondschein oder im Morgengrauen, mit Rucksack und Mantel, ohne Erlaubnis, und ohne schlechtes Gewissen.

Mit drei Jahren erkundet der junge Ausreisser eigenständig den Wald, findet in Kräuterfrauen und Landstreichern Freunde und Gesprächspartner, entdeckt, allein oder bald mit anderen Waldkindern, die schönsten und eindrücklichsten Winkel des Kartenabschnitts.

Wieder und wieder flieht er vor seinen Lehrern und macht sich auf, um neue Abenteuer zu erleben. Mit seiner Waghalsigkeit verschafft er sich Respekt unter den Banden im Wald, und mit seinen Fäusten verteidigt er seinen Ruf unter den Hafenkindern.

Bald schwimmt er mit, auf den Flossen flussabwärts, stets auf der Flucht vor den Wachen der Felsenburg, die verzweifelt nach dem kleinen Racker suchen.

Die Kinder des Hafens, die ihn widerwillig in ihre Bande aufnehmen, hegen eine Abneigung gegen die Flusskobolde und so soll Jonathan, als Mutprobe, die Flosse der Kobolde in Brand stecken.

Der Junge, der bestrebt ist, sich in der Bande zu beweisen, zögert nicht lange, schleicht zu den Booten und zündet sie an. Allerdings wird er entdeckt und gefangen genommen. Die Hafenkinder flüchten und lassen ihn im Stich.

So sitzt er in der Falle und wird von den Kobolden in einen Käfig gesperrt.

Während seiner Gefangenschaft wird er vom Häuptling der Flusskobolde befragt. Die Gespräche, die ernst und schroff beginnen, entwickeln sich in erregten Austausch über Gott und die Welt.

Der Kleine beweist Rückgrad und Respekt für die verfolgten Flusskobolde. Er weiss erstaunlich viel über die Vorgänge der gross-gallischen Patroullien und zeigt sich offen und hilfsbereit. Nach zwei Tagen Gefangenschaft wird der Kleine freigelassen, aber er bleibt als Gast noch weitere Tage in der provisorischen Siedlung.

Nach herzlichen Verabschiedungen lässt er sich von den Wachen fangen und zurück in die Felsenburg bringen.

Seine Mutter, die Herzogin, zeigt sich streng und kalt, wenn er wieder eingefangen wurde. Ihm ist es recht. Er wird wieder und wieder unter Hausarrest gestellt. Aber auch das ist dem Jungen recht.

Zusammen mit seinem Werklehrer, einem Zwergenfürst vom Monte Bre, macht er erstaunliche Fortschritte in der Bau- und Zeichenkunst. Wenn er nicht schläft, entwickelt er Methoden, seinen Dachstock für mehr Bewohnende anzupassen.

Mit Tüchern und Seilen, Knoten, Nadeln und Nähten, Kissen und Lichtern lernt er schnell mit Zeltbau seinen Ideen Ausdruck zu verleihen und seinen Dachstock «ergonomischer zu gestalten», wie sein Lehrer zu sagen pflegt.

Mit Seilzügen und gebastelten Kisten und Spielsachen wird der Dachstock des Turms bald zu einem Irrgarten aus Kämmerchen und Betten, in denen der Junge allerlei im Wald gefundener Utensilien, Zeichnungen und Texte versteckt und für seine Haustiere und Spielfiguren Schlafplätze eingerichtet hat.

Es ist ein geborgener Raum mit einem grossen Schloss. Der Junge behält die Tür allerdings stets offen, damit die Tiere frei ein- und aus gehen können. Denn in seinem Turm erhebt er nur eine Regel: Es wird draussen geschissen.

Die Hündin Ponyo und der Hund Chewie, die Katze Philip I., das Eichhörnchen Jipp und ganz viele ihm bekannte und unbekannte Tiere kommen ihn dann und wann besuchen, sehr zum Unbehagen seiner Mutter.

Dieser Junge, der sich allem widersetzt, alle Konsequenzen in Kauf nimmt und immer darauf erpicht ist, den anderen Lebewesen in seinem Umfeld beizustehen, wird wahrgenommen als eine Plage.

Der Hof bemitleidet die Herzogin. Das Kind wird als Fluch gesehen. Es sei von einem Dämon besessen. Vor allem der ordens-kritische Gelehrte findet passende Worte um den Bengel vor wichtigem Besuch zu erniedrigen.

Aber dieser unkontrollierbare, unberechenbare Bengel wird sein Schicksal als Spinner stets mit Bravur meistern. Mit Fantasie und Verständnis für alles lebende wird aus ihm einer der meist-gefeierten Barden der Welt, dessen Andenken noch heute von Sehenden und Tauben gepflegt wird.

Was denkst Du über Jonathan, Spinner?“

Der Laufbursche hebt sachte seinen Blick aus der Kugel, verlässt den Leib der Taube und versetzt sich wieder in seine eigentliche Lage. Die Taube hat er auf dem Dach des Turms in ein Nest gesetzt. Der Schwarm ist unten auf dem grossen Platz.

Der Laufbursche sieht ruhig in die Augen der Seherin und antwortet:

„Ich denke vieles, manches davon ist wahrscheinlich falsch… Aber ich fühle mich so gut wie noch nie. Ich spüre Dankbarkeit, zum ersten Mal in meinem Leben. Bisher habe ich nur Enttäuschung kennen gelernt.

Danke, oh Seherin, Du wunderbares Wesen, dass Du mir diese Welt eröffnet hast. Ich will den Umgang mit den Karten lernen, ich will Dir Freude bereiten und Deine Weisheit in Ehren halten. Ich will die Geschichte dieses Jungen erfahren und daraus lernen, meinen eigenen Weg zu gehen.“

Die Seherin grinst, streckt eine Hand aus und sagt:

„Genug für heute. Komm, wir gehen tanzen, saufen und die Sterne besingen. Du bist geliebt, du junger Hirsch und Du wirst deinen Weg immer wieder finden, bis zum edlen Grab.“