PAD MORELLI’S «BERGEN» V

BUCH 1: Die Wesen der Welt

Z: Die Welt in der Kugel

Hoch oben im Himmel, getragen vom Gesang der Seherin, fliegt der Laufbursche im Wind. Er ist überwältigt vom Geschwindigkeitsrausch. Er fühlt seinen Körper nicht mehr, jedenfalls nicht den, der bei der Seherin im Wohnwagen auf dem warmen Fell sitzt.

Sein ganzes Bewusstsein ist in den Himmel getragen worden, er fliegt, über den verteilten Wolken, die unter sich lange Bergketten erkennen lässt.

Vogelgezwitscher erfüllt sein Umfeld. Schwärme verschieden grosser Vögel kreisen und stürzen in allen Richtungen. Instinktiv folgt er den Signalen einer grau gefiederten Kolonne.

Seine Hände sind mit langen Federn bewachsen und er trägt ein warmes, aber leichtes Federkleid. Der Wind wird von seinem Schnabel gespalten und seine Augen geben ihm ein klares Bild, das bis zum unerreichbaren Horizont reicht.

Seine Füsse sieht er nicht, aber sie scheinen den Wind gut lenken zu können. Im allgemeinen ist sein Körper leicht und beweglich, warm und erregt.

Die Stimme der Seherin holt ihn kurz in den Wagen zurück ohne dass er die Kontrolle über den Flugkörper verliert.

«Willkommen in der Welt der Karten, mein lieber Spinner. Was Du siehst, ist in den Wasserzeichen der Wolken verewigt und kann in der Kristallkugel wieder zusammengesetzt werden.

Seit Anfang der Zeit versuchen die Sehenden und die Tauben in symbiotischer Freundschaft die Geschichten der Barden zu verwahren, um sie den Zeitreisenden zugänglich zu machen.

Die Tauben führen stolz ihren Teil der Abmachung aus und tragen die Geister der Besuchenden durch vergangene oder laufende Spiele, während die Sehenden die Karten legen und die Spiele rekonstruieren.»

Ihre Stimme und sein menschliches Körperbewusstsein schwinden wieder im Geräusch der Luftströme.

Als er sich kurz von seiner Kolonne abwendet um zurück zu schauen, blendet ihn das Sonnenlicht. Er will seine Augen schützen, vergisst das Fliegen und fällt.

Wie ein Pfeil schnellt er gegen die Erde. Verzweifelt versucht er irgendwie den Wind wieder abzufangen, schafft es schliesslich und so wird sein Fall wieder zu einem Gleiten und schliesslich zu einem Zeit verzerrenden Flug.

Unter den Wolken findet er sich weit oberhalb des Rhonetals wieder. Die Hänge und Wälder machen sich unter ihm breit.

Er erkennt weit unter sich den Knick des Tals, wo der Illgraben in die Rhone fliesst. Dort hat er sein ganzes Leben verbracht.

Als er sich dem Boden nähert fallen ihm allerdings Unterschiede im Gelände auf. Keine geteerten Strassen und Schienen verbinden die Siedlungen, sondern Landstrassen, Steinbrücken und sorgfältig errichtete Baukomplexe.

Sein Schwarm zieht eine Linie, die steil Richtung Siedlung zielt. Innert kürzester Zeit sind sie in der Siedlung an der Rhone angekommen.

Die Kolonne landet auf einem der Tauben Türme. Beim Landemanöver erhascht er einen Blick auf sein Antlitz; Seine Federn sind grau, sein Kopf Grün geziert und sein Nacken mit einem violetten Schimmer geschmückt. Sein Mantel enthält verschiedene Graustufen und sein Schnabel ist schwarz und golden umrahmt.

Er fühlt sich anschaulich, für eine Taube. Und auch die anderen Tauben im Schwarm tauschen aufgeregte Blicke mit ihm, die in ihm ein lange vermisstes Schwärmen wecken.

Die Aussicht vom Taubenturm aus umfasst die Siedlung am Fluss und den Waldrand. Der Pfynwald ist dichter und weitläufiger. Bald bemerkt er, dass die Gebäude und Menschen, die unter ihnen unbekümmert ihrer Beschäftigung nach gehen, aus Zeiten stammen, die ihm völlig fremd sind.

In dem Sinne: Willkommen in der Spätantike: Jonathan wird vor Caesar, vor dem römischen Einfluss geboren, in eine Zeit also, die den Geschichtsforschenden weitgehend verschleiert bleibt.

Die Epoche ist von politische Instabilität geprägt. Im keltischen Kulturgebiet werden die Verhältnisse wiederholt umgewälzt. Ideen von Volks-Herrschaft oder «Republik» bündeln in Gross-Gallien den Frust der Arbeiter- und Bauernschaft.

Die wütenden Meuten verurteilen die ‹Dekadenz der Herrschenden› und fordern eine grundlegende Veränderung. Nur tun sie sich schwer daran, eine neue Ordnung zu schaffen, die von allen Zweigen der Revolution anerkennt wird.

Die Region Pfyn gehört der losen Stammesvereinigung Ost-Gallien an, die ausser dem Orden der Druiden und Barden keine Institutionen kennt und weitgehend selbstverwaltend allerlei verschiedene Gesellschaftsmodelle vertritt.»

Der Laufbursche ist nicht gerade ein Geschichtsgelehrter, aber sein Bild von den Galliern wurde grundlegend erschüttert. Sein Pflegevater hatte die Gallier als Wilde bezeichnet, die weder Kleidung noch Sitten kannten.

Die Gebäude und Menschen, die dem Laufburschen erscheinen, sind elegant und gepflegt. Auch die Sprachfetzen, die er vernimmt, sind sanft und verspielt. Verglichen mit den 1920er Jahren leben die Wesen hier in angenehmen Verhältnissen, geprägt von schlauen Bau- und Verarbeitungs-Methoden, einem Verständnis für physikalische Kräfte und Gleichgewichte.

Schöne Ornamente zieren die Holzterrassen, eingemauerte Gartenbeete ziehen sich an der Kopfsteinstrasse entlang und die Gebäude sind Teils vier Stockwerke hoch gebaut, aus Stein und bemalten Bälken. Auf dem Dorfplatz und am Waldrand sind Gebäude teils in die Baumkronen gebaut worden.

Überall hängen Schilder, mit einer schönen Schrift bemalt Namen oder Mehrsprachige Anweisungen an die Gäste richten. Überall wird gerade gelüftet, es hängt Wäsche aus den Wohnungen und die Tiere wurden gerade gefüttert. Touristen werden unterhalten und durch die Gegend geführt.

Überall spriessen wohlduftende Pflanzen und Gemüsegärten, Blumen und Bäume. Der Laufbursche wird nicht satt vom Anblick und ist froh, dass seine Kolonne keine Anstalten macht, weiterzuziehen.

«Dies ist der Grundzustand der Welt, Du kannst immer an diesen Moment zurückkehren und die Gegend frei erkunden. Allerdings bleibt dieser Urzustand nicht bestehen…»

Der Laufbursche überhört den letzten Satz und schlägt freudig seine Flügel, fliegt abwärts, dicht an den Rummel, in die Lauben. Wein, Fleisch und Käse wird in den Kellerkomplex getragen, überall begrüsst man sich und diskutiert, es wird verhandelt, gescherzt, geschimpft und getröstet.

Da ist er also, zwischen den Häusern und Burgen aus einer Zeit lange vor seiner Geburt, bestaunt das rege Getue und Gerufe der Menschen und Wesen die zu seiner gewöhnlichen Zeit längst verstummt und verschwunden sind in den Geschichten der Erde.

Dem Laufburschen ist wohl zu Mute. Er saugt alles auf; Die Töne, Düfte, das Wetter und die Bewegungen der Wesen… Alles scheint sich selbst irgendwie bewusster zu sein, eine Art Original zu einer bekannten Kopie.

Nichts passiert plötzlich oder grob. Alle Lebewesen wandeln summend und murmelnd in Stössen und Zügen harmonisch durch das gemeinsame Aderwerk der Siedlung und tragen in raffinierten Gepäck- und Kleidungsstücken, Wagen und Traggestellen Köstlichkeiten in die Küchen, Holz zu den Öfen und Heilmittel zu den Kranken und Verletzten.

Er landet auf eine Dachrinne, krallt mit seinen Tauben-Füssen das fein bearbeitete Kupfer und balanciert sein Gewicht in einen angenehmen Ruhezustand.

Er betrachtet die Strasse, die durch Susten führt. Die Schönheit der Gebäude, die Flaggen und Kleidungen der Menschen überfluten ihn mit Wellen des Wohlgefühls.

«Dies ist das Land der sieben Zwergenkönige. Der Barde, den Du bei seinem Spiel beobachten wirst, wird hier geboren. An diesem Tag. Ihm wird der Name Jonathan von Felsenburg gegeben.»

Mit einem grossen Sprung überfliegt er das Dorf, kommt zum Hafen und zur überdachten Brücke und schliesslich zur Strasse Richtung Leuk-Stadt, wo eine Kolonne aus Ochsenwagen und Reitern stockend hinaufschlängelt.

Unzählige Male ist der Laufbursche hinauf geschickt worden, in die Stadt, meistens zu Fuss, um Briefe aus zu teilen oder Einkäufe zu erledigen. Viele Male auch mit einem Maultier, das er zu seinen besten Freunden zählt.

Der «Stutz», also die Steile Strasse, hat ihn viele Male fast in die Knie gezwungen. Jetzt kann er einfach die Flügel ausstrecken und sich dann Wind schlagend über den Anstieg höher und höher tragen lassen.

Er setzt sich auf den Turm eines Windrads und sieht hinunter ins Tal.

Boote schwimmen auf dem wilden Fluss, grosse und kleine. Hausboote sind am Ufer befestigt, bemannte Gleiter schweben im Wind und überall tragen die Menschen bei, zu den Gesängen der Vögel.

Entlang des steilen Weges sind goldene Äcker angebracht, zwischen hohen Bäumen. Gesänge dringen zu seinem Gehör. Alles vermischt sich mit dem Vogelgezwitscher, von dem er trotz seiner Tauben Erscheinung nicht viel versteht.

Wassermühlen drehen bei den Bächen, Ochsen treiben Pflüge durch den Boden, überall blühen Gärten und Obstbäume. Wind- und Wasserräder setzen über Zahnräder komplexe Mechanismen in Bewegung, in Wägen aller Grössen und Formen werden Wesen und Waren transportiert.

Die Bewässerungsanlagen bringen das Land zum Spriessen.

Mit einem weiteren Sprung überfliegt er die lange Kolonne und gelangt über die Mauern der Greifsstadt zu einem grossen Baum im Zentrum, ganz oben, bei der grossen Halle (die später romanisiert wird). Im Schatten liegen Menschen im Gras, lesen, rauchen Pfeife oder schmusen.

Oben in den Ästen des alten Baumes haben es sich die Barden bequem gemacht. Mit ihrem Geleier verbreiten sie Liebe und Bequemlichkeit. Die Gartenterrassen der Bierhäuser sind stark besetzt mit verzauberten Mädchen und farbenfrohen Paaren.

Unter den Passanten entdeckt er auch Gruppen von merkwürdigen, menschenähnlichen Wesen. Kleine, bärtige Minenarbeiter mit grimmigem Blick, die in engen Formationen durch die Leute rücken, oder mittelgrosse, hagere Gestalten mit Backenbart in massgeschneiderten Anzügen, in den Farben des Waldes. Sie laden die Passanten grinsend zum Glücksspiel oder Handel ein.

«Das Land der sieben Zwergenkönige ist eines der letzten Länder, in denen Kobolde und Zwerge, Feen und Erlen und alle anderen fantastischen Wesen sicher vor der gnadenlosen Verfolgung und Ausbeutung durch Sulla und die Gallische Krone sind.

Überall sonst im Mittelmeerbereich und den angeschlossenen Teilen Europas werden fantastische Wesen gejagt und gehandelt, meistens lebendig. Als Sklaven werden die Kobolde verkauft und in allen Sektoren ausgebeutet. Die Zwerge werden unter furchtbaren Konditionen meistens in den Tunnels und Minen verpflichtet.

Rom fördert die Jagd, bezahlt in aller Welt gutes Geld an die Jägertrupps aus Trollen und Menschen, die durch die Lande ziehen und Angst und Schrecken verbreiten.»

Ihm fallen an vielen Gestalten Merkmale auf, die er noch nie an Menschen gesehen hat und viele Schnitte, die ihm viel praktischer scheinen, als die Schnitte der Kleidung seiner eigenen Epoche…

Gepäck, Frisuren, alles geflochten und gepflegt, gesteckt und gehangen.

Es ist bezaubernd diese Wesen beobachten zu dürfen. Dankbarkeit überkommt den Laufburschen beim Gedanken an die Seherin, die ihn hierher gebracht hat, um ihm zu helfen.

Der Laufbursche stösst sich wieder ab, und schlägt sich weit über das Städtchen, um die Aussicht zu betrachten.

Das Tal zieht sich weit ins Bild, die Hügelburgen sind von Marktzelten umgeben und mit farbigen Fahnen behangen und verbunden durch einen immer währenden Zug aus gezogenen Wagen, Schiffen und Radbooten und Wanderkolonnen, Blaskapellen und allen erdenklichen wandelnden Ständen und Händlern.

Die Stimme der Seherin holt ihn summend zurück in den Wagen in seine eigene Welt, im Pfynwald der 1920er Jahre… Ihm kommt in den Sinn, dass er ja eigentlich mitten in einem Kartenspiel steckt. Er legt seine Karte auf die Spielfläche am Bett der Seherin. Es ist der Ecke Bube.

Sie legt den ersten Trumpf auf seine Karte und sticht damit seine Hand. Der Laufbursche verzieht das Gesicht.

«Bin ich jetzt tot?»

Sie lacht.

«Nicht tot, aber der Grundzustand der Welt ist vorüber. Zum ersten Mal wird die Welt untergehen. Du musst nun den Rest des Spieles mitverfolgen, ohne wirklich stechen zu können. Und da ich die Trümpfe so gemischt habe, das Du jetzt der Reihe nach alle 21 Karten über Dich ergehen lassen musst, wird die Erzählung so gradlinig, wie es nur geht. Aber Du wirst lernen müssen, einzustecken.

Es ist ja diesmal nicht Deine Geschichte, sondern die von Jonathan dem Landstreicher. Einem Spinner, wie Dir, der es allerdings in einem Zug geschafft hat, alle Trümpfe zu überzeugen und so von den Tauben immer noch als einer der Favoriten bepfiffen wird, weil er am Ende diese Welt retten kann.

Allerdings ist dies nicht nur der erste Tag im Leben des Barden, sondern vorerst auch der letzte der ost-gallischen Unabhängigkeit»

Er wird an den Hafen zurückgepfiffen, wo er ein grosses Radboot am Ufer andocken sieht. Als die Brücke hinuntergelassen wird, dringt ein mit Gepäck beladener Schwall aus Menschen und Wesen hinaus und mischt sich unter die Meute.

Waren, Post, Tiere und Fahrzeuge werden mit einem Kran vom Boot gehoben und überall erklingen freudige Begrüssungen und Wiedersehen. Aber eine ungewöhnliche Hektik wird breit und verstolene Blicke finden oben auf den Bergen, wo gerade ein leuchtendes Feuer entfacht wird…

«Die Heiterkeit wird sich bald verziehen. Es sind dunkle Tage. Im Westen ist Krieg ausgebrochen. Revolutionäre Truppen haben die Grenzen Ost-Galliens übertreten und ihr General hat vor, das Tal zu besetzen.

Die schwangere Herzogin von Felsenburg hat darauf bestanden, der Sitzung des Grossen Rates der Seduner beizuwohnen, um aus erster Hand die Neuigkeiten aus dem Westen zu erfahren.

Ihr Mann, der Pferdeherr und Diplomat des Ordens der Druiden und Barden, Philemon von Drachenberg, ist vor zwei Tagen im Königspalast der Hauptstadt der Gross-Gallier von den Revolutionären erstochen worden.»

Unter den penetranten Alarmglocken steigt die höchstschwangere, schöne Dame mit hochrotem Kopf vom Dampfradschiff. Sie ist in schwarz gekleidet, aber eher harsch und grob, als galant.

Mit den Passagieren dringen die Nachrichten über Entwicklungen der Lage ins Dorf: Revolutionäre Truppen sind bereits in Monthey einmarschiert.

Die Idylle ist zerbrochen. Die Menschen verschwinden verängstigt in ihre Häuser, bereiten ihre Flucht vor. Viele Schwarzmaler sehen sich bestätigt und heuern die Leute an, die Gebäude zu verbarrikadieren.

Die Generationen werden alle paar Jahrzehnte durch Krieg, Krankheit oder Hunger dezimiert und die Überlebenden zum nostalgischen Trauern verdammt. Alle Jahre wieder fegt Tod und Verderben über das Land. Nur wenige erfreuen sich an der Neuigkeit einer Revolution in Grossgallien. Es bedeutet das Ende einer unbeschwerten Zeit.