PAD MORELLI’S «BERGEN» III

BUCH 1: Die Wesen der Welt

X2: Der Vermisste und die Seherin

Der Postbote von Leuk wird vermisst. Überall hängen die Anschläge der Polizei, auf denen unter dem Namen des Vermissten auch ein Phantombild und diverse Informationen gedruckt wurden.

Der Laufbursche des Posthalters, der wegen seinem Stottern als Armee untauglich abgestempelt und daraufhin im Dorf zum Deppen gemacht wurde, schläft.

Sein Körper ist völlig entspannt. Eine Katze hat sich zu ihm gesellt und schnurrt auf seinem Bauch.

Seine Hände liegen über seiner Brust, die Finger ineinander gefaltet. Die Beine sind in spitzem Winkel vom Körper aus gestreckt auf dem Teppichboden ausgebreitet und sein Atem ist tief, wenn auch sanft.

Am vorherigen Abend ist er in den Wald geflüchtet. Die Umstände sind ihm schleierhaft. Betrunken ist er in den Wald hineingerannt, bis zu einer Feuerstelle wo er…

Mit einem tiefen Atemzug setzt er sich auf. Die Katze purzelt unter Protesten zu seinen Knien und verzieht sich. Sein Herz pocht. Sein Schädel auch.

In einem Anflug von Übelkeit lässt er sich zurück sinken und stöhnt.

Mit heiserer, gebrechlicher Stimme entschuldigt er sich bei der Katze, aber seine Halbherzigkeit reicht nicht, um das schwarze Jung-Raubtier von seiner Reue zu überzeugen.

«Ach du Scheisse…», denkt er sich, «ich habe den Dienst verpasst…» Nach kurzem Angstschweiss-Ausbruch versinkt er in lähmende Scham und kauert sich auf dem Teppich zusammen. «Verdammt. Wenn ich die Stelle verliere, bin ich geliefert.»

Er kratzt all seinen Lebensmut zusammen, sitzt wieder auf und presst seine Handballen auf die Augenhöhlen. Dann gähnt er und streckt sich mit jammerndem Ausdruck.

«Ich hätte damals mit Jean-Claude nach Amerika abhauen sollen, verdammt. Der lebt bestimmt gerade ein weiteres Abenteuer in Neu York oder im Wilden Westen.»

Die Tür öffnet sich leise und er erkennt die Seherin. Ruckartig drückt er sich mit dem Rücken an die Wand und setzt den Gesichtsausdruck auf, den er immer trägt, wenn sein Chef ihn beim Träumen erwischt.

«Na, Du Spinner. Hast du gut geschlafen?»

Er nickt mit einem nervösen Lächeln, das sowohl Misstrauen als auch ehrliche Dankbarkeit durchscheinen lässt. Sie trägt einen Krug Tee und Gläser und steigt zurück in die Kutsche.

Beim Anblick ihrer vielen Schichten aus Röcken und Mänteln, mit den seidenen Kopftüchern und verzierten Strähnen, dem Schmuck an Armen, Knöcheln, Ohren und Hals, den mystischen Tattoos, die am Kragen und an den Ärmeln hervor schauen und wahrscheinlich ihren ganzen Körper bedecken und beim Geruch, der, obwohl er bestimmt nicht den Vorgeschmäckern der Damenwelt der Zeit entspricht, trotz allem würdevoll und anziehend auf ihn wirkt, kann er nicht anders, als sich noch ein wenig mehr in diese bezaubernde Frau zu verlieben.

«Tee?» fragt sie unbekümmert.

«Sehr gern.» Sagt er, ohne zu stottern.

«Nun. Ich will nicht viel Zeit mit Nebensächlichkeiten verlieren. Wie ich schon gesagt habe; Ich will Dir beibringen, wie Du diese Karten anwenden kannst, weil ich denke, dass es Dir helfen kann auf deinem Abenteuer.»

«Abenteuer?!» keucht er beunruhigt. «Ich, also, eigentlich…»

Die Seherin lässt sich nicht unterbrechen und fährt fort:

«Das Wissen, dass ich Dir vermitteln will, gebe ich nur sehr selten weiter. Also bitte ich Dich aufmerksam zu sein und es als Privileg zu sehen, diese Lektionen zu erhalten.»

Er nickt und muss einen Impuls unterdrücken, sich aus dem Wagen zu stürzen und in den Westen zu fliehen, um dort der Schmach und den Erniedrigungen seines Chefs entrinnen zu können.

Der mitte-zwanzig-Jährige nimmt behutsam eines der heissen Gläser Tee entgegen und hält sich den warmen Dampf unter sein Gesicht. Er erkennt Yasmin mit einem Hauch von Zitronengras und Ingwer.

«Was weisst Du über diese Karten?» fragt die Seherin und öffnet eine Schublade.

Der Laufbursche erschrickt schon fast und stammelt:

«Was? Ähm… Ach so. Ja. Ich… Ähm. Also. Eigentlich spielt man ja damit. Also es ist ein Spiel. Ein Kartenspiel. Ein Zeitvertreib. Wie Würfel. Nur halt in Kartenform… Ich weiss auch nicht genau…»

«Gar nicht so schlecht…» sagt sie und wendet sich mit einem Kartendeck in den Fingern zu ihrem Gast.

«…Es sind Reihen aus sich ähnelnden handgrossen Kunstwerken, die mit Symbolen und Bildern verschiedene Etappen einer Reise beschreiben. Der Reise eines Narren.

Aber so wie es unzählige verschiedene Decks aus Kunstwerken gibt, gibt es auch unzählige Gebrauchsarten und Spiele, die anhand dieser Symbol-Reihen über die Epochen entstanden sind.

Den meisten dienen sie wirklich nur zur Vergnügung, aber manchen dienen sie bei der Kunst des Schreibens und des Erzählens und somit auch der Kunst des Lebens. Jedem Kartendeck kann man eine Geschichte entlocken, die der Künstler in Ehren eines Narren darin verewigt hat.»

«Was meinen Sie mit Narr?»

«Ein Narr ist ein unverstandener Geist, der in sich die Rettung der Welt trägt, jedoch durch harte Prüfungen gehen muss, um sich seiner würdig zu erweisen.»

Der Laufbursche spielt vor, verstanden zu haben und fragt nicht weiter…

«Das Deck, das ich Dir schenken werde, wenn Du die Prüfungen bestanden hast, ist das Deck des Jonathan von Felsenburg.

Der Legende nach ist das Deck von einem Künstler der Spätantike in einem Stollen des Gorwetsch verwahrt worden, während der römischen Expansion.

Bevor ich es Dir schenke, möchte ich Dir allerdings Schritt für Schritt erklären, wie Du es anwenden kannst.

Ich will Dir zeigen, was es kann und was es nicht kann.»

Der Laufbursche, der in Gedanken von seinem Vorgesetzten geplagt wird und den Faden des Gesprächs schon lange verloren hat horcht auf und murmelt:

«Das ist… Das ist doch gut… Das ist… Schön… Dankeschön…»

Die Seherin reicht ihm den Kartenhaufen. Er bestaunt Handgrossen Malereien, die auf leichtem Metall geritzt und bemalt verschiedene Figuren, Objekte und Szenen zeigen.

«Angeblich ist es die Geschichte eines Narren, der alle Prüfungen überraschend, aber mit Bravur besteht und trotzdem das Spiel verliert.

Es ist die Geschichte eines keltischen Barden und Diplomaten, der kurz vor der Römischen Invasion seine Lebenszeit antritt und nach der Eroberung und Auslöschung seiner Kultur durch die Römer stirbt.»

Der Laufbursche ist sichtlich gelangweilt.

«Komm mit Du Spinner. Wir müssen Dich etwas an die frische Luft bringen.»

Zögerlich nimmt er die Hand der Seherin die ihn über den belebten Platz zerrt, wo viele verschiedene Künstlerinnen und Künstler, Handwerkerinnen und Handwerker, Tierpflegerinnen und Tierpfleger das Paar teils misstrauisch, teils freundlich beäugen.

An der Hand der Seherin wird der Laufbursche tiefer in den Wald und über den Illgraben an den Fuss des Gorwetsch gezerrt. Während der fast einstündigen Wanderung durch Büsche und an steilen Abhängen entlang gelangen die beiden zu einer Höhle.

«Hier soll das Kartendeck vor tausend Jahren gefunden worden sein. Ein Eremit, der sich während den Kreuzzügen von der Kirche abgewandt und sich stattdessen den Tieren und Pflanzen des Pfynwaldes zugewandt hat, entdeckte an dieser Stelle einen verzierten Felsen, der sich nach seinen Ausführungen, hat ohne grosse Mühe zur Seite schieben lassen.

Dahinter verbarg sich diese schlichte Höhle und darin eine Steintruhe. Ein mysteriöser Orden von vorchristlichen Geistlichen hat in dieser Truhe das Vermächtnis ihrer Zivilisation hinterlassen, die vor 2000 Jahren die Region von den Römern ausgelöscht wurde.»

«Woher weisst Du das alles?»

«Der Eremit hat seinen Fund beschrieben und die teils zerfallenden Karten sorgfältig nachgezeichnet. Diese Berichte sind über das letzte Jahrtausend der europäischen Geschichte im Geheimen verwahrt worden. Sie sind umstritten, viele glauben nicht an deren Authentizität.

Ausserdem zweifelt man auch an der psychischen Gesundheit des Eremiten. In seinem Bericht tauchen Fabelwesen auf. Man weiss nie so recht, wo die Fantasie des Autors beginnt und wo die historischen Fakten tatsächlich stimmen.

Er wurde damals von der Kirche zum Tode verurteilt, als er seinen Fund in heimlichen Kreisen verbreiten wollte.

So gerieten seine Aufzeichnungen und die originalen Platten des Decks in die Hände der Kirche und wurden unter grosser Geheimhaltung in einem naheliegenden Kloster der Stadt Siders verwahrt, wo der Fund bis zur Renaissance geheim gehalten werden konnte.»

Der Laufbursche hört nur mit halbem Ohr zu. Seine Sorge gewinnt die Oberhand. Seine Stelle, seine Situation, sein Versagen… Alles ist realer als das abenteuerliche Interesse dieser fahrenden Schönheit an irgendwelchen steinalten Legenden.

«Es ist wirklich spannend und alles… Aber ich glaube, ich sollte langsam mal zurück… Ich werde meine Stelle verlieren…»

Der Druck der Gesellschaft. Die Boshaftigkeit und die Missgunst innerhalb der Dorfgemeinde. Die Erwartungen an sich selbst. Sein tristes Leben als stotternder Narr, dem alle einen zahlen, weil sie ihn erniedrigen wollen.

Alles ist realer als dieser träumerische Moment, diese Reise in die Vergangenheit, die ihm so belanglos, fremd und folternd erscheint.

Die Seherin merkt, wie sich die Stimmung trübt. Mit einem verständnisvollen Lächeln berührt sie sachte seine Schulter und sagt:

«Du kannst nicht mehr zurück. Du bist jetzt einer von uns. Komm, wir gehen zurück zum Lager.»

Der Spinner willigt ein mit einem etwas unbeholfenen Händeschwingen. Überfordert und hilflos lässt er sich von der Seherin durch den dichten Wald führen.

Im Lager sitzen alle im Kreis um das Lagerfeuer. Alle sind dick eingepackt und die meisten eng ineinander geschlungen. Gitarre, Handorgel und Geige untermalen die Lieder.

Bald schläft der Spinner ein, den Kopf auf der Schulter der Seherin gelehnt den Körper unter einer dicken Wolldecke verborgen, Tränen in den Augen.