Buch 2: Die Freiheit der Narren
III: Die Herrinnen
Die Seherin spielt den dritten Trumpf.
«Dies ist die Karte der Herrscherrinnen. Sie halten die Ländereien in Takt, während ihre Männer in der Ferne ihr Schicksal beschützen. Sie beschützen die Sippe und urteilen eher vorschnell.»
Auf der Karte sind zwei Damen auf gezeichnet, wieder nur als Büsten dargestellt von der Mitte aus in alle langen Richtungen der Karte gezogen.
Die eine hält eine Fahne in die Luft. Sie galoppiert auf einem Fuchsroten Pferd aus Mauretanien durch das Wüstenland, trägt goldene Rüstung und Helm, Sanitätszeugs und Wasser. Ihre Fahne ist geziert mit einer weiss-Grün gestreiften Rose.
Auf der gegenüberliegenden Seite hebt eine üppige Frau ein Weinglas und bewundert die Tänzer und Barden in ihrem reichen Garten.
Der Laufbursche spielt die Schaufeldame und verliert.
«Die Gräfin der Felsenburg stammt aus einer langen Tradition aus Geistlichen, hat aber mit den Bräuchen ihrer Familie gebrochen. Sie sieht die Dinge rational.
Sie ist ein erfolgreicher und wichtiger Teil in der Gesellschaft und geniesst hohes Ansehen. Sie ist für Diskussionen, aber lässt sie allerdings selten zu.
Mit ihrer Leibgarde galoppiert sie im Tal umher, besucht die Kranken, befreit die Unterdrückten und unterstützt die Verlassenen.
Was ihre politische Einstellung angeht, so ist sie sehr beeinflussbar und etwas vergesslich. Die beliebte Vereinspräsidentin hat ein wildes Leben hinter sich, zusammen mit dem verstorbenen Gatten, der auch begeisterter Musiker war, ein guter Tänzer und ein steinharter Kritiker der Gross-Gallischen Expansion.
Sie ist diskret und pragmatisch. Wenn sie einen Gross-Gallischen Gefängniswärter trifft, muss ein Weg bestehen, womit man in einem Gespräch das Gefängnissystem in seiner Härte Recht behält. Wenn sie einen entlassenen Häftling trifft, ist sie eine Weile lang bestürzt und tränkt ihre Verwirrung wieder in einem kurzen Rückfall in lähmende Träumerei und überhäuft sich mit Arbeit.
Wenn sie einen Bänker trifft wird eine liberale Marktwirtschaft legitimiert und so steckt für sie plötzlich, der Grund allen Bösens in der Lasterhaftigkeit und Gutgläubigkeit der Armen.
Sie sagt, dass sie glaubt, dass die Republikaner keinen Fehler begehen, wenn sie in der Unterwelt aufräumen.
Ein Gelehrter, der sich an ihrem Hof für grosse Vorträge über sie und ihre Familiengeschichte bemüht, bringt sie auch dazu, die Praktiken des Ordens stark in Frage zu stellen und für eine höhere Witwenrente gerichtlich gegen den Orden vorzugehen.
Der Gelehrte, der alle Praktiken der Druiden und Barden ablehnt, lässt in ihr den Gedanken wachsen, dass ihr verstorbener Mann wegen seiner Trinkgewohnheit degeneriert gewesen sei und sieht in seinem Nachwuchs verdammte Wesen.
Als ihr Sohn Jonathan mit Konzentrationsschwächen und Verträumtheit auffällt, bringt der Gelehrte sie dazu, ihr anfangs endloser Glaube an Jonathan zu brechen und sein Schicksal in der Hölle zu sehen.
Auch die Methoden die sie auf Rat des Gelehrten als Herrscherin anwendet, weisen sich als zerstörerisch und kontrovers aus. Nach einem Trink- und Rauchverbot in der ganzen Felsenburg entsteht in den geheimen Kellerbeizen eine regelrechte Bewegung gegen sie, die weiterhin im Verborgenen die Laster geniessen und bei den Waldmenschen unterkommen.
Ihre Unzufriedenheit mit den heimlich trinkenden Menschen nährt eine kalte, unbarmherzige Seite in ihr, die nur Dunkelheit aufkommen lässt und ihr Umfeld darin einhüllt.
Der Gelehrte, der ihr gerne auflauert, um ihr erfundene Intrigen aufzutischen, ist allerdings immer abweichender und merkwürdiger. Oskarix der Freidenker macht plötzlich Anstalten, sich nicht mehr so sicher zu sein, ob er das Semester seiner Kurse wirklich zu Ende bringt.
Er scheint nicht in der Felsenburg bleiben zu wollen. Sie sieht ihn in Gängen mit Angestellten tuscheln, sie zu bedrängen und immer erschrocken verschwinden.
Die Verbote und die Haltung der Gräfin führen dazu, dass sich nicht mehr viele ihrer ehemaligen Bekanntschaften an den Hof trauen. In ihrem Stolz verletzt, hetzt sie gegen den Orden, gegen ihren verstorbenen Ehemann und gegen alle Festlichkeiten im Tal.
Bei einem Abendessen mit einem Freund der Familie hat sie sich über die Kobolde beklagt und sie als lasterhaften Abschaum bezeichnet. Daraufhin ist Jonathan vor dem Gast der Kragen geplatzt:
«Du spuckst das Gift dieser Schlange! Diese Doppelzüngige Bestie hat deinen ganzen Verstand vernebelt!»
Die Erwachsenen waren verblüfft von seinen schlechten Manieren, obwohl die meisten Gäste im geheimen dem Kleinen zustimmen. Seither steht Jonathan unter Hausarrest.
Blumenbart wird um sieben Uhr morgens von Esoula sanft mit einem Frühstück in den Gemächern geweckt und bald von der aufgeregten und blendend schönen Hofdame abgeholt.
Sie fragt ihn fast flüsternd: «Entschuldigen Sie, wir haben uns noch gar nicht vorgestellt. Ich bin Hofdame Esoula am Hof der Pferdeherrin und Herzogin Rosa von Felsenburg.»
«Sehr erfreut. Mein Name ist Baumbart, ich bin der Vorsitzende des Ordens der Druiden Barden Ost-Galliens.»
Sie führt ihn in die grosse Halle, wo die Herzogin der Felsenburg etwas gestresst und genervt auf dem Thron sitzt und in Papieren wühlt.
Die Wache, die sie beauftragt hat, den Jungen zu holen, kehrt verwundert zurück und berichtet ängstlich, dass Jonathan nicht in seinem Schlafsaal sei.
«Was?! Schon wieder? Esoula, sag mir nicht, dass Du wieder Mitleid gehabt hast!»
«Nein Herrin, ich schwöre es, ich hätte sonst doch nicht den Herrn Vorsitzenden hierher geholt…»
Rosa blinzelt verwundert zur Tür «Herrn… Vorsitzenden?»
Sie erkennt im Schatten des Wartesaals ihren ehemaligen Lehrer Blumenbart!
«Merlin, sind Sie es?» fragt sie plötzlich sanft und aufhorchend
«Ja, Ich bin es, gnädige Frau.» Der Druide verbeugt sich.
«Meine Güte, ist das peinlich.» Sagt sie und vergräbt grinsend das Gesicht in den Händen.
«Aber, aber… Das ist doch kein Problem. Ihre Hofdame hatte die Güte mich einzuladen und zu verköstigen. Ich bin überaus dankbar. Allerdings haben mich schlimme Nachrichten erreicht.
Es sind dunkle Stunden.»
«Sie haben von der Festnahme gehört?»
«Festnahme? Nein… Welche Festnahme?»
«Das Grossgallische Herr hat die Spinner vom Pfynwald einsperren und verbieten lassen. Ich denke es wird Zeit, dass der Wald etwas sicherer gemacht wird… Wie viele Kutscher haben diese Typen auf dem Gewissen. Das muss man sich mal vorstellen. Eine Kutsche nehmen und nie am Ziel angekommen, wegen diesen Trotteln in Strumpfhosen…»
Die Herzogin, die den Vorsitzenden Blumenbart trotz all der Zweifel am Orden immer noch sehr zu schätzen weiss und sich gerne gemeinsam in Geschichten ihrer Verwandten schwelgen lässt, begreift im Gespräch mit dem Druiden, dass der Gelehrte an ihrer Seite vielleicht doch nicht immer der beste Einfluss auf ihre Stimmung hat.
Beim Namen Oskarix der Freidenker runzelt er bitter die Stirn und macht schon fast Anstalten zu gehen.
«Der Orden wird mit einer Koalition aus den besten Einheiten gegen das Gross-Gallische Heer antreten und sie Schachmatt setzen. Es wird schon heute Abend losgehen.
Diese Festnahmen bringen das Fass weiter zum überlaufen. Der Orden hat die Methoden der Republikaner satt und wenn wir dem Gelehrten Grautal glauben können, steht ein Zeitalter des Friedens bevor.
Denn Bonapartix ist hinüber gekippt, in den Rausch der Macht. Seine Revolution verhindert unser Bedürfnis, Geborgenheit zu erlangen und diese zu teilen.»
«Ich habe sie vermisst, Baumbart.» Sagt die Herzogin plötzlich unter Tränen.
Der alte Druide fällt aus der Rolle, und wird ganz klein laut: «Oh, nein, gutes Kind. Ich habe in der Hast Deinen Verlust vergessen…»
Er legt ein Hand auf ihre Schulter und sagt: «Gnädige Herzogin Rosa von Felsenburg, das Leben wird Sie weiterhin beschenken. Sie sind ein Fels in der Brandung und verdienen alles Lob der Welt für ihren Einsatz.»
Mit diesen Worten verlässt Merlin Blumenbart die Felsenburg und kehr so schnell er kann an die Universität Latène zurück, von wo aus ihn die Nachricht vom erfolgreichen Streich Grautals erreicht.
Von diesem Tag an wachsen in der Felsenburg wieder die Blumen und die sonst so gradlinige Herrscherin beweist seit diesem Gespräch nicht mehr nur Strenge, sondern auch einen scharfen Sinn für Humor, Führung und beschert dem Hof wahre Freiheit.
Seit dem Wiedersehen mit Blumenbart setzt sie sich mit kämpferischem Herzen für ihre Untergebenen ein, kultiviert eine Atmosphäre der Hoffnung und Schönheit und packte an der grossen Friedensfeier eine herzzerreissende Singstimme aus, die alle Herzen ihrer Burg wieder für sie schlagen lassen.
Die strikten Verbote wurden aufgelöst, der Gelehrte wies sich als Schwindler aus, der auf Kosten der Herrin seit Jahren im geheimen furchtbaren Zwängen und Gelüsten nachging und nach seiner Verbannung Richtung Rom floh.
Der Vorsitzende Merlin Blumenbart besucht seither bei jeder Gelegenheit die Felsenburg, gewöhnlich auf seinem grauen Pferd.
Ein guter Freund von ihm, ein alter Wanderer und Erfinder namens Bilbo Beutlin wird ihn eines Tages begleiten, sich unsterblich in die Witwe verlieben und sie zwei Jahre später heiraten.
Als Jonathan nach seiner Musterung als Spinner in die Felsenburg zurück muss, beginnt seine lange Haftstrafe. Zuerst völlig zerstört von Trauer über sein Werk, seine Bande und all die Dinge, die auf einen Schlag verschwaden.
Nach der Sehnsucht, begann er, die Einsamkeit zu geniessen. Er lernte für die Prüfungen, verfolgte strikte Hygiene- und Haushalts-Routinen, lass in den Büchern seines verstorbenen Vaters und schaute oft lange und in Gedanken versunken hinunter ins Tal.
Natürlich überkommt ihn auch Langeweile. Aber er entdeckt den Dachstock seiner Kindheit neu, träumt und summt, und dichtet, malt und schreibt und schichtet die Blätter im Wind.
Er sitzt tatsächlich die drei Jahre Hausarrest ab, die ihm vom Gericht auferlegt wurden, wegen seiner Aktivität in der Bandenszene, besteht die Prüfungen und bekommt sogar einen Preis für seinen Aufsatz. Das brachte in der Herzogin ein von ihm noch nie gesehenes Strahlen zum Vorschein.
Also sitzt er im Anzug der Absolventen am selben Tisch wie seine Verwandten aus der Gegend, schlägt sich den Bauch voll mit Köstlichkeiten und Leckerbissen und freut sich auf seinen grossen Auftritt. Denn er will nicht bleiben.
Er steht auf, dann auf den Stuhl, auf den Tisch und breitet die Arme aus. Der Geschnatter verstummt. Belustigte Blicke werden ausgetauscht.
«Werte Menschen, werte Wesen und werte Dinge
Ich bedanke mich für ihre Unterstützung, ohne welche man im heissen Erdkern verschmelzen würde.»
Er verbeugt sich unter zögerndem und gehemmtem Klatschen, tritt auf die Stuhllehne und stürzt sich mit einer Pirouette durchs offene Fenster in die ungeheure Tiefe.
Die Festgemeinschaft ist bestürzt! Die Herzogin fällt in Ohnmacht. Die Bediensteten tauschen verzeifelte Blicke aus…
Aber es war nur Schau. Im Anzug der Diplomierten fliegt Jonathan von Felsenburg mit seinem Gleiter über den Pfynwald auf die Südseite der gegenüberliegenden Bergkette und landet wie gewohnt bei der Hügelburg der Guttner.
Allerdings ist in den drei Jahren einiges gewachsen. Die Landebahn ist voller Sträucher. Ausserdem sind auch seine Beine länger geworden und er schürft sich bei Knie auf. Eher schlecht als Recht kommt er zum stehen und streicht kurz über seine Wunden.
Karl, der überglücklich ist, seinen Dienst im Gross-gallischen Rüstungs-Lager hinter sich lassen zu können, sprintet mit Jonathan durch die Nacht, bis zum Illgraben, wo sie sich auf einen Heuwagen schleichen, der von einem pfeifenden Bauern das Tal hinab gefahren wird.
Mit ähnlichen Methoden kommen die beiden Waldgoofen, wieder in ihrem eigentlichen Dress, dem Weiss und Weiss-Grün-gestreiften Kapuzen-Kleid, in Sitten an.
Dort hat der Frieden wahre Wunder losgetreten. Ein riesiges Zeltmeer wurde am Fuss der Stadtmauern gebaut. Die Gaukler und Händler verbreiten die Genüsse der neuen Zeit. Köstlichkeiten, Trinklieder, Tänze und Tourniere werden abgehalten.
Jonathan ist auf der Suche nach Martinus, dem Magier und findet ihn, im Wald bei den Burghügeln. Er hat am Markt der Seduner spezielle Kräuter gekauft, die er in seiner Pfeife raucht, während er die Aussicht geniesst und auf seiner Leier klimpert.
Erfreut fallen sie sich in die Arme, Jonathan macht ihn mit Karl vertraut und sp machen sie sich gemeinsam auf in die Stadt.
Bald treten sie gemeinsam regelmässig in den Gasthäusern und an den Höfen und Märkten auf. Jonathan und Karl gewinnen mehrere Instrumente bei Wettbewerben und so reisen der Magier, der Narr und der Waldgoof ungebunden durch das Tal, zum See der Lemannen oder über die Berge ins Seeland.
Sie treten in Bars auf, oder in Berghütten, bei Erntefesten, an Versammlungen der alten Banden in besetzten Burgen und an verbotenen Festen im Wald, wo die Festmeute mit ihrer Musik immer wieder zu leben beginnt und sich so tief mit einander unterhält, dass Dutzende soziale und kulturelle Projekte auf Abende mit den Barden zurück zu führen sind.
Der Zug der Reisenden heisst sie willkommen und nimmt sie auf in die Bruderschaft der fahrenden Barden.
Schliesslich schliessen sich die drei auch wieder einer Reiter-Bande aus dem Western an: Den Schlagabunden.
Die Schlagabunden leben in verlassenen Burgen und Häusern, verschreiben sich dem Malen und dem Musizieren, sind Freunde der Tiere, in loser Gemeinschaft organisiert und vom Spiel der dreien überzeugt.
Eines schicksalhaften Tages spielen die Schlagabunden am Seeufer auf ihren Instrumenten und locken damit die Göttin der Fruchtbarkeit an, die in ihrer Kutsche auf der Durchreise von den Klängen ergriffen wird.
So werden die Schlagabunden Emma la Bassiste, Tom Sauser, le batteur, Augustix, le Prince des Bardes, Cloé la Douce, Polo Posseidonix, Camilla lAmie des plantes et Bertschi, der furchtlose Seebengel an den Hof der Göttin der Üppigkeit gebracht, wo sie eine Konzertreihe beginnen, die in der Neugründung des Dionysischen Zugs resultiert, in der Entfachung der ewigen Jam und in Freundschaften, die alle Zeiten überdauern können.
Von den anderen Waldgoofen hat Jonathan seit der Musterung nichts mehr gesehen und hat sie, um ganz ehrlich zu sein, fast schon aus seinem Geist verdrängt.
Ihr Leben ist so schön am Hof der Göttin, dass sie sich gar nicht an die traurigen Kapitel der Reise erinnern mögen. Die beiden Musiker werden stets empfangen wie Prinzen, gelobt und bejubelt und vollends verköstigt.
Dionysos selber hat auf der Gitarre des Jonathan gespielt, das Leben ist schnell und intensiv, während sich um den Garten der lustvollen Üppigkeit die internationale Lage abermals zuspitzt.
Der Hof der Göttin wird ihnen ein Leben lang als Zufluchtsort und Konzertort erhalten bleiben. Die Göttin der Üppigkeit und der Fruchtbarkeit hält ihnen auf dem grossen Baum im Hof vor dem Eingang auf Lebzeiten ein Aufenthaltsrecht – in ihrer eigens gebauten Baumhütte.
Der Hof ist begeistert von ihrem Wortwitz und ihren harmonierenden Stimmen, von ihren energischen Vorstellungen mit waghalsigen Kunststücken. Die Göttin wird ihre gute Freundin und geniesst es, mit den beiden zu diskutieren, zu singen und zu reisen.
Die beiden Buben, Jonathan und Karl, und auch der Magier Martinus sind zwar halb so gross, wie die meisten anderen Kunstschaffenden am Hof, aber sie verhalten sich weit erwachsener als die meisten. Sie lassen sich von nichts und niemandem aus der Ruhe bringen und leben ihre Tage nach ihrem eigenen Geschmack und Rhythmus.
Durch ihren plötzlichen Reichtum erscheinen sie stets gepflegt und teuer eingekleidet zu den grossen Abendessen und werden affektiv «die Herrchen» genannt. In ihren hochwertigen Mänteln wandern sie durch die Hügel und kommen auf den Geschmack der Heilkräuter. Auf den Strassen von Montreux gelten als ruhige, begabte Barden, die niemandem quer kommen und mit ihrem Spiel die Geister überzeugen können.
Die Schlagabunden halten sich derweil meistens auf ihrem Schiff auf, das Jonathan so gerne umbauen möchte. Louis Löwenzahn und Karl lernen gemeinsam die Kunst des Fotografierens. Sie fordern sich auf brüderliche Art dazu auf, sich selbst zu übertreffen und werden ebenfalls ausgezeichnet für ihre Dokumentarische Arbeit. Ihr nächstes Ziel ist es, nach Latène zu fahren, in die Hauptstadt Ost-Galliens.
Martinus findet am Hof weit mehr Anklang als die etwas rauen Schlagabunden und so bleibt er am Hof, als Karl Jonathan bittet, mit zu ziehen.
Also endet für Jonathan die Zeit der Üppigkeit. Karl und Jonathan packen und gurten all ihre Habseligkeiten auf einen Wagen, den sie mit dem Gepäck der Ochsen verbunden haben. So stossen alle mit, wenn`s hoch geht, und alle tragen ihr eigenes Essen und Habseligkeiten, die sie sich mit ihren reichlich gesammelten Gagen aufgestockt haben. Entlang der vielen Seen und Flüsse können sie sich ziehen lassen von den Ochsen, aber wenn es bergauf geht, ziehen sie mit. Und so rattert ihr Wagen in der Kolonne der Schlagabunden Richtung Norden, auf den Dächern wird Musik gespielt und in den Kutschen ausgeschlafen…
Ihre Kolonne macht allerdings Umwege, einerseits um anderen Banden, und andererseits, um die Burgen ihrer Verwandten zu besuchen:
Von Bulle, nach Bière, zu den Freien Burgen, nach Murten, Biel und schliesslich nach LaTène. Dort liessen sie nach einem grossen Konzert die Schlagabunden ziehen, in den Westen.
Dort sollen Karl und Jonathan einen verlassenen Dachstock beziehen können, in einem Hochhaus von Karl’s Grossmutter. Der Dachstock in der Innenstadt birgt ein enormes Atelier, in dem seine Grossmutter, Mathilde, einst die Anzüge und Rüstungen anfertigte, mit denen seit Generationen der gesammte Orden der Druiden und Barden ausgestattet wurde.
Karl schwärmt oft davon. Ihre Werkstätten seien «weltberühmt» geworden. Aber in seiner Schwärmerei entdeckte man auch Verzweiflung. Der Besuch war zwar angekündigt, aber ohne Antwort-Taube geblieben. Aber sobald die beiden Jugendlichen in der Strasse einkehrten war dort schon die ganze Gemeinde versammelt, und hiessen die beiden ausgerissenen Barden herzlich willkommen.
Die Seherin weist dem Laufburschen ein Blatt Papier.
«Dies ist ein Text, der von Blumenbart über genau diese Zeit geschrieben hat. Eigentlich ist der Text Jahre später dem Feuer zum Opfer gefallen, aber er wurde von einem anderen Zeitreisenden transkibiert und übersetzt. Es ist eine der Früchte unserer Magie. Möchtest Du ihn lesen?»
Der Laufbursche nickt und wendet seinen Blick auf die Buchstaben.
«Viele Menschen des Viertels waren ausgerissene, mit besonderen Begabungen. Aber bestimmt nicht einfache Mitmenschen – eher mühsame. Aber alle auf ihre Art unersetzlich und engagiert.
Die beiden Barden Jonathan von Felsenburg und Karl von Greifstadt sind also in dieses Hochhaus eingezogen, haben versücht sich nützlich zu machen und gingen schnell ans Werk.
Tatsächlich haben die beiden etwas verlumpten Saufbolde einen Kran entworfen und gebaut, mit dem sie ihr ganzes Gepäck von der Strasse in den Dachstock heben konnten.
Und dieser überrümpelte Dachstock, der der Familie meist gar nicht mehr im Sinn gewesen war, der voller verworfener Ideen und Jahrhunderten an Staub brach dalag, wurde von ihnen ausgemessen und gezeichnet. Das Gerümpel wurde sortiert und eingenutzt. Die Werkstatt unten gab ihnen enorme Möglichkeiten, vor allem um Gestelle herzustellen und die Utensilien zu waschen, zu pflegen und dann oben auszustellen.
Sie entwarfen aber auch viele Räume, was die Werkstatt in eine Art Kuriositätenkabinett verwandeln sollte, niemand verstand wirlich ganz, auf was sie hinaus wollten, aber mit den Jahren nahm es Gestalt an…
Obwohl niemand es glauben wollte; Im abgehängten Teil des Hochhauses entstand eine Oase des ruhigen Handwerks, hinter den Kuriositäten schraubten die beiden Weg-Gefährten an einem ganz speziellen Objekt;
Dem Tretboot-Wagen namens Sophia. Und Jonathan hatte die Schlagabunden überzeugen können, eines ihrer Flussboote abzutreten – vorübergend nur vorübergehend, aber vielleicht auch für immer.
Augustix, der Besitzer des Bootes, das Jonathan so gerne umgestalten würde, besucht die Werkstatt und lenkt unerwartet ein. Das Boot wird mit dem eigens gebauten Kran in den Dachstock gehoben und dort auf die vorbereiteten Stelzen gelegt.
Zusammen mit der Grossmutter beginnen Karl und Jonathan die lange Arbeit. Ihr Ziel: Einen Wagen erschaffen, der schwimmen, tauchen und fahren kann, mit Tretvorrichtung und Bremse, ausfahrbaren Masten und Segeln und Wassermühlen-Grosse Räder. So würde man über und durch Land und Wasser navigieren können.
Monatelang überarbeiten sie die Zeichnungen, rechnen Winkel und Kräfte aus, bereiten die Muster und Schablonen vor, berechnen die benötigten Materialien und planen deren Bearbeitung und Ansetzung.
Während den Arbeiten verstirbt die Gross-Mutter von Karl. Bestürzt wird sie von den Angehörigen in einer grossen Trauerfeier bestattet und hinterlässt mit ihrer ungeheuren Komplizenschaft eine warme Erinnerung.
Der Tod dieser lustigen und weisen Person, die vor Ideen nur so geblubbert hat, reisst die beiden in eine tiefe Trauer, die beide lernen, im Alkohol zu ersaufen.
Der Dachstock wird Karl überschrieben, er richtet auch Schlafsäle ein, organisiert einige Konzerte und wird sich Zeit seines Lebens darum bemühen, dass es in der Bar in seinem Dachstock gut läuft. Und bald läuft auch die Sophia. Und dann gehen sie alle zusammen aus.
Sie nehmen mit einigen Freunden an der Paraden Tour Teil, bei denen selbstgebastelte Wagen vorgeführt werden. Sie lassen sich gewöhnlich von ihren zwei Ochsen ziehen, die sie im Erdgeschoss halten konnten und vorbildlich pflegen. Wenn sie durch die Stadt ziehen, erwecken die jungen Erfinder viel Bewunderung bei den Anwohnenden.
Ausserdem haben sie ein erhabenes Porträt von Mathilde im Halb-Profil an den hinteren Teil des Schiffes gemalt und beide auf die Brust tättowiert.
Und so zieht das Schiff, oder der Wagen, der vor kurzem in diesem Dachstock, nicht fern von hier, in überraschender Geschwindigkeit gebaut wurde, jetzt durch das See land.
Ich habe gehört, sie nennen es Sophia, also die Weisheit. Aber wenige wissen, dass es dabei vor allem um die Waldgoofen-Prinzessin aus ihrer Kindheit geht, Sophia von Grünwald. Die Wald-Prinzessin, die mit ihnen eingesperrt worden war, in der Nacht der geköpften Blumen und die sie nie wieder gesehen haben.
Schon damals haben beide stark gefühlt, beim Gedanken und Anblick der kleinen Abenteurerin. Aber jetzt, wo ihre etwas erwachseneren Köpfe sprudelnde Hormonwellen in die langen Nächte fegen, da träumen beide von der schlauen, frechen und bezaubernden von Grünwald.
Mit ihrer Handferitgkeit und ihrer Vorstellungskraft haben sie vor, die Suche nach allen Waldgoofen anzugehen.
Sophia Grünwald kehrt mit ihren grünen Augen gerne in den Sinn der beiden ehemaligen Waldgoofen zurück und oft, wenn sie in ihren Hängematten dem Schlaf entgegen schwanken, schwärmen sie über die Schönheit von Sophia. Jonathan dichtet Lieder über ihre Sommersprossen und Karl spricht vom Aspekt ihrer pechschwarzen Löckchen.
Das Schiff Sophia ist ein wahres Haus auf Rädern, mit dem sie im Zug der grauen Barden weite Tourneen begleiten und sich auf der Landstrasse, auf den Bauernhöfen und in den Städten und über alle Grenzen hinweg fahren.
Ihr Umgang ist sicherlich auch zeitweise gefährlich und ungebrochen, viele Piraten zählen zu ihren Freunden, viele Flusskobolde, sture Zwerge und lodernde Vertreter der Unterwelt kennen sie und respektieren sie für ihr professionelles Auftreten und ihr performatives und erfinderisches Können.
Dieser Umgang ist zeitweise schädlich, die beiden widerstehen keiner Versuchung.
Viele sind mit ihnen mit gegangen, wenigstens ein Stück. Grössen aus der Rollbrett-Banden-Welt, Rad-Fahrende Schützen, Reiter-Verbände aus allen Teilen der Welt, Boote überqueren mit ihnen die Seen und folgen ihnen auf den Flüssen, meistens einfach, um der Musik zu folgen, die sie an der ewigen Jam an den Tag legen.
Neben ihnen wird auch Louis Löwenzahn Berthet bei den Lemannen, er steig manchmal an Bord der Sophia, sie teilen oft Nahrung und Medizin mit Bekannten, spielen Karten und Tischfussball auf Deck und lernen auf ihren Reisen das Land und all sein Leben kennen.
Sie entwerfen immer mehr Wagen, bis daraus eine wahre Flotte entsteht. So werden sie zu einer der meist respektierten Wagentruppen Ost-Galliens.
Für ihre Tourneen verfolgen immer die selbe Route: Durch die Rittermark der Rhone entlang hoch, bis an ihren Ursprung und dann wieder zurück, flussabwärts, bis nach Genf und wieder zurück in ihre Heimat im Seeland.
Karl hat also nach einer dieser wundervollen Touren eine Anfrage einer Untergrundbewegung in Gross-Gallien bekommen, die den Frieden mit Konzerten herbei führen will.
Mit dem Schiff Sophia, das sie von den Ochsen ziehen lassen, reisen sie also nach Westen, wo ja auch die Schlagabunden sich hingetraut haben, aber finden an der Adresse nur eine Ruine und nach längerem Suchen auch eine Menge Leichen.
Sie legen die Toten in eine Reihe, waschen ihre Gesichter und Hände, flechten sie und sammeln Feuerholz. Dann zünden sie alles an, um die Verwesung zu vermeiden. Mit traurigen Gesängen fahren Sie zurück an die Grenze, wo sie ohne Widerstand zu leisten von republikanischen Wachen fest genommen werden.
Das Fahrzeug wird beschlagnahmt und die Barden zusammen mit anderen Grenzübertretenden in ein Grenzgefängnis gesperrt.
Obwohl man Karl für die Verhaftung zur Verantwortung ziehen könnte, erwähnt Jonathan zu keiner Zeit, dass sie vielleicht doch hätten davon ablassen sollen, in Gross-Gallien zu spielen.
Im Gegenteil; Jonathan klopft seinem Kollegen immer wieder grinsend und freundschaftlich auf die Schulter.
Im Gefängniss erzählen sie ihren Mit-Insassen die Geschichte der Nacht der geköpften Blumen. Jonathan und Karl erwähnen regelmässig alle Bands, die in der Greifsstadt für die Widerständler gespielt haben.
Begeistert entsteht ein schwärmerisches Gespräch, das sich in der Zelle ausbreitet. Von den geköpften Blumen geht es über die Rollbrett-Künstlern zu den Abenteuern der Schlagabunden und Nymphen am Hof der Göttin der Üppigkeit und von ihren Konzerten in der Rittermark.
Die Insassenschaft erzählt Geschichten aus dem Jura und dem Seeland, von den Seisler und Berner Banden. Jonathan wird diese später im Band «Von Schmugglern und Grenzsoldaten» festhalten.
Die Häftlinge stimmen viele Lieder an und begleiten auch inbrünstig die Gesänge der mittlerweile fünfzehn jährigen Barden.
Den Toten im Westen wird auch ein Lied gewidmet. Ebenso Olaf, dem Baumbengel, der in der Nacht der geköpften Blumen seine Bande hat schützen können.
Jonathan wundert sich über eine Taube, die auf dem kleinen Fenstersims sitzt und durch die Gitterstäbe gurrt. Er winkt ihr zu und legt sich schlafen.
Die Stimme der Seherin holt den Laufburschen zurück aus dem Gefängnis in den Wagen, fast 2000 Jahre später.
Ich glaube, wir werden morgen weiter machen. Leg Dich eine Weile hin, ordne Dich.
Dem Laufburschen fällt erst jetzt auf, dass er andere Kleidung trägt und seine verkratzten Arme grösstenteils verheilt sind.
«Ich bin doch eigentlich weggerannt um meine Freunde…»
«Schlaf! Es wird Dir gut tun. Deine Freunde müssen warten. Aber denk daran; Du musst es zu Ende spielen. Dann findest Du auch Deine Freunde, am anderen Ende der Reise.»
Und so schläft der Laufbursche ein. Sein Geist erschöpft und sein Mut erprobt, und er träumt, wie er die Seherin vor einem Haufen Schlangen schützt, mit einem Lichtschwert, während sie zu den Sternen strebt.
Auf seinen Schultern stehend bekommt sie den Sichel Mond zu fassen und zieht ihn mit sich über die Wolken in den Himmel und in ihr Luftschloss…