Buch 1: Die Wesen der Welt
Einleitung: Internationale Beziehungen
Die Lichter im Saal werden erloschen, das Geschnatter der Menge verflüchtigt sich, der Vorhang wird geöffnet…
Ein Erzähler tritt auf die Bühne, auf sanftem Fuss und mit geschlagener Eleganz.
«Wertes Publikum…“
Er richtet sich in der Mitte des Saals auf und seine Augen funkeln in den Scheinwerfern.
«Dies ist ein Märchen. Sie werden hiermit eingeladen, mit der Redaktion Der Streuner und all den Mithörenden und Mitlesenden gemeinsam weit in die Zeit zurück zu reisen.
Diese Reise bringt bestimmt gewisse Verwirrungen mit sich. Und, zugegeben, die Welt, in die Sie eintreten werden, entspringt gänzlich der regen Fantasie eines Menschen.»
Wichtel und Wesen tauchen im Hintergrund auf und bauen ein Bühnenbild auf, das sich jeglicher Einordnung entzieht.
Der Erzähler nimmt davon wenig Notiz. Konzentriert von einem wachsenden Baum erhoben, nimmt er seine Rolle sehr ernst und führt das Publikum weiter:
«Es ist eine Zeit, in der Wesen auf der Welt wandeln, die man nur aus verwunschenen Geschichten kennt und deren Spuren, wenn sie denn je existiert hätten, für immer verwischt wurden.
Es ist eine Zeit, in der Wald und Tiere vom Menschen gefürchtet werden und nur Legenden sich an die tatsächlichen Umstände des wilden Lebens wagen.
Der historische Hintergrund der Geschichte ist weitgehend ungeklärt, aber es lässt sich erahnen, dass es sich um die Jahre kurz vor Cäsars Gallienfeldzug handeln muss…»
Das Rampenlicht erlischt und ein riesiger Tischfussballtisch wird an Seilen auf die Bühne gelassen.
Zwei geschnäuzte und zwei raiserte Männer treten an den Apparat und beginnen wild dran zu zwirbeln…
«In dieser Zeit galt die Konfrontation am Töggeli-Kasten als die höchste diplomatische Kunst zwischen den Ländern. Hier werden die meisten Unstimmigkeiten geklärt. Ist das Resultat weiterhin unklar, wird der Rest im Kreis der Klugscheisser bestimmt.
Wir befinden uns am Hof des höchsten Häuptlings von Gallien wird gerade ein Gipfeltreffen abgehalten. Es geht um ernste Dinge. Die langen Sitzungen verlaufen voller Spannungen und Wutausbrüchen.
Die römischen Diplomaten fallen auf mit ihrer Geringschätzung, die bei allen Beteiligten auf Verstörung trifft.
Umso schöner ist es, dass die beiden Ost-Gallischen Diplomaten, Ewald von Greifsstadt und Philemon von Drachenberg, die Römer im Finale des Töggeli-Tourniers mit 10:7 ohne Pokal nach Hause schicken.
Die Freude um den Sieg währt allerdings nicht lange. Stimmen werden laut. Man hört sie in der Eingangshalle des Palastes.
Seit Jahren hört man sie. Sie schreien, die alten Wege seien nicht mehr gerecht. Bald lässt es sich nicht mehr ignorieren und die ost-gallischen Wachen werden von der aufgescheuchten Meute niedergestochen.
Donald, der Verrückte, hat in einer Rede auf den Champs-d`Elyssée eine Meute aus radikalen Republikanern dazu motiviert, das Gipfeltreffen zu stürmen, um dort den «Sumpf trocken zu legen und anzuzünden!».
Alle Diplomaten, mit Ausnahme der beiden Römischen, werden von der aufgebrachten Meute getötet. Das Oberhaupt der Gallier wird zur Guillotine gezerrt.
Mit seiner Enthauptung wird am selben Abend ein neues Zeitalter angeschnitten.
Unter der Trikolore und unterstützt von der Römischen Republik stürmt das Volk alle Paläste der Gallischen Oberschicht und gibt mit ihren Bombenanschlägen den Startschuss für die gallische Revolution.
Der darauffolgende Aufstieg eines jungen Generals und die Ausrufung eines zentralistischen Gross-Gallischen Staats verlaufen parallel mit der Selbstfindung eines jungen Barden, dessen Lebensgeschichte dieses ellenlange Märchen bündelt.»
Der Erzähler schaut prüfend in die Runde. Es würde ihn nicht überraschen, viele Abgänge zu beobachten. Zu seiner Freude bleiben die meisten sitzen.
«Wir wissen ab der Absurdität dieses zusammengestiefelten Dekors. Der Autor besteht darauf, dass wir nichts – wirklich gar nichts – ändern dürfen. Es ist ein wahrlich störrischer und überheblicher Mensch.»
Der Erzähler grinst zu den Logen und nimmt den Faden nach kurzer Pause wieder auf:
„Aber was will man machen? Wir inszenieren, was geschrieben wird. Und niemand hat wirklich etwas eingereicht, ausser dem alten und bestimmt nicht guten Pad Morelli… Ohne ihn wäre die Redaktion bestimmt einfacher zu leiten, aber mit ihm haben alle ein gutes Small-Talk-Thema…» (allgemeines Gelächter)
„Pad Morelli‘s BERGEN soll ein Märchen sein, das sich gegen Krieg, gegen Hegemonie und gegen Verfolgung stellt. Es soll einstehen für Diversität, Toleranz und Solidarität, für Frieden und für Freiheit, ohne dabei wirkliche Ernsthaftigkeit vortäuschen zu wollen. Es ist ein Werk voller kindlicher Begeisterung, das ein wirres Geflecht aus Geschichten zusammen spinnt.“
Mit einem Knall fliegt ein Konfetti Wirbel über die Tribünen, die Kapelle beginnt laut zu plärren und viele Gestalten reiten auf exotischen Wesen in die Manege, manche Rad schlagend, manche jonglierend, andere sichtlich betrunken und enthemmt.
Gröhlend urinieren sie einander über die Köpfe und machen unerhörte Gesten und Grimassen. In ihren Satyrn-Kostümen mit erregten Gliedern und Ziegenbeinen schwanzen sie mit irrem Blick durch den Sand, immer wieder eingewoben in die wilde Orgie des Dionysischen Zugs, unter harten Tönen und wilden Rhythmen.
Das Publikum ist nun sichtlich verstört von der Vorstellung. Sie werfen mit allem was sie halten, spucken und fluchen, bis sich die Szenerie wieder etwas gesitteter präsentiert.
Die Satyrn verschwinden, es sind nur noch orientalische Tänzerinnen zu sehen, die Musik wandelt sich in zärtliche und tiefgründige Klänge.
Der Erzähler wird von Trapezkünstlerinnen hoch in die Luft gezogen und auf ein Einrad gesetzt, das auf einem dünnen Seil zwischen zwei Zeltpfosten steht. Mit ruhiger Stimme fährt er fort:
„Es freut uns, Sie im Zirkus DEQUMBIX begrüssen zu dürfen. Unsere Artistinnen und Artisten haben lange geübt und getüftelt, um Ihnen die folgende Geschichte auftischen zu können.
Es soll in folgenden Seiten ein Leben erzählt werden, von Anfang bis Schluss, von Geburt bis Tod.
Dass dieses Leben aus der Perspektive eines Mannes erzählt wird, ist der Redaktion bewusst. Auch die Verortung in West-Europa wird hingenommen und möglichst gerechtfertigt. Nach langen Diskussionen wurde klar, dass alles andere nur Verfälschung und kulturelle Aneignung bedeuten würde.
Also wird unser Held in den Alpen geboren. Wir werden ihn als Säugling kennen lernen und seine Geschichte wird ihn erst im Greisenalter wieder von uns verabschieden.
Falls sich bisweilen unterwegs jemand an sich selbst erinnert fühlt, ist das schön… Denn, mal abgesehen vom ganzen Schwindel, birgt das gedichtete Märchen des Jonathan von Felsenburg doch ein wenig Weisheit unter seiner bitteren Kruste.»
Der Erzähler wird von den Artistinnen grob geschubst und surrt nun wackelig auf dem Einrad zwischen den Pfosten des Zirkuszeltes hin und her. Immer noch relativ ruhig liest er weiter von den unauffällig gehaltenen Notizen ab:
„Wir alle schreiten durch die Jahre, mal freudig, mal nachdenklich, aber es begleitet uns das Wunder, ob in den Zufällen, in der Fantasie oder in den Dingen. Ob in Bildern, Gerüchen oder Klängen… Ob im Umgang mit anderen, im Umgang mit der Welt oder im Umgang mit uns selbst…
Falls Sie weiter mit uns ziehen wollen, stellt diese Geschichte eine volle Spielrunde dar, also seid Euch der Länge dieser Reihe bewusst.“
Der Erzähler wird in rote Seidentücher gewickelt und vom Turm geschmissen. Unversehrt landet er auf einem gerade errichteten Podium in der Mitte des Zeltes und spricht nun in ein Mikrofon:
„Folgende Geschichte soll nichts weiter, als unterhalten, Frieden und Freude verbreiten und zu Gesprächen führen. Für jegliche Ähnlichkeit zu tatsächlichen Umständen oder Personen wird keine Haftung übernommen.“
Der Trubel lichtet sich. Alle Gestalten verschwinden und hinterlassen nur fliegenden Staub und eine bizarre Erinnerung. Der Erzähler setzt sich auf die Stufen des Podiums und geniesst die volle Aufmerksamkeit:
„Es ist vor allem ein Spektakel, ein Kasperli-Theater, eine Zirkusvorstellung, eine Spielkapsel für unsere Geister, die man bei Gelegenheit hervorkramen kann und hoffentlich etwas schmunzelt und die Augen verdreht, ab der Masslosigkeit und Vollmündigkeit, mit der diese tollkühne Geschichte ins Publikum der ersten Reihen gesprochen wird – ohne dabei auch nur einen Tropfen Speichel fliegen zu lassen.“
Die Szenerie verändert sich.
Frau Holle schüttelt Schneeflocken vom Nachthimmel, zierliche Glöckchen ertönen, fliegende Weihnachtswichtel hängen allerlei Dekorationen auf, Kobolde zünden ein Feuer im Kamin, Zwerge verteilen Glühwein und Stäckli. Der Erzähler macht es sich in einem Sessel am Feuer bequem und öffnet ein grosses Buch:
„Zur Adventszeit dieses Jahres hat die Redaktion Der Streuner die Abenteuer von Jonathan von Felsenburg niedergeschrieben. Diese werden kapitelweise jeden Tag pünktlich zur Öffnung der Adventsfensterchen an eine Handvoll Menschen verschickt. Einfach so, zum Spass.
Es soll auch irgendwann als Hörbuch aufgenommen werden und auf Spotify und auf Youtube verbreitet werden, sowie als illustrierter Roman verkauft werden – aber so wie ich die Reaktion kenne, kann das noch eine Weile dauern.“
Eine grosse Leinwand rollt sich von der Decke her aus und gibt sich als über-grosse Spielkarte zu erkennen, mit der Aufschrift: Der Narr.
Darauf schreitet ein voll bepackter Barde pfeifend in die Welt hinaus und scheint sich um nichts kümmern zu wollen. Hinter ihm erkennt man die drei Berge der Leuker Nordwand: Märätschi, Illhorn und Gorwetsch.
„Die Redaktion Der Streuner präsentiert stolz Pad Morelli‘s Erstlingswerk und inoffizielle Liebeserklärung an die schönen Aussichten der Stadt Leuk, den Blick auf das Rhonetal und an alle Bewohnerinnen und Bewohner dieses märchenhaften Ortes.
Geschrieben wurden diese Texte auf radikal naive Weise, zuweilen vielleicht apologetisch, was linke Ideologien angeht, aber sicher herzlich und in guter Absicht.“
Der Erzähler tritt aus dem Rampenlicht und wendet sich den ersten Reihen zu. Fast flüsternd sagt er:
„Diese Märchensammlung wurde von einem merkwürdigen Menschen geschrieben. Er hat sie sich ausgemalt, beim Anblick aller Winkel und Ecken dieses Kartenabschnitts und sich entschieden, jetzt, wo er diesen bunten Schwall nicht mehr halten kann, ihn einfach ins Gesicht der Welt zu erbrechen, um wieder schweben zu können, scheu versteckt hinter dem Pseudonym Pad Morelli.
Über Pad Morelli weiss man eigentlich nur, dass er gelegentlich von der Mundart-Punk-Band The Rudifutschers als Texter und umherhüpfende Rampensau verpflichtet wird und sich als Jules der mittleren Tochter der Grubers umhertreibt.
Viel Vergnügen und frohe Festtage.
Die Redaktion Der Streuner
Dachstock der Hammerschmiede
Leuk-Stadt